Der sprechende Vogel

Àñÿ Òðåòüÿêîâà
         Aus dem Russischen übersetzt von meiner Tochter Ksenia. Ich danke ihr vielmals für die Übersetzung!




1.
Was wissen wir von unserem Schicksal? Die Sehergabe kommt nur wenigen zu Teil. Es scheint, dass Leben verläuft auf einer geregelten Bahn und manchmal schlenkert es zu der ein oder anderen Seite, wie ein Metronom. Nach links, nach rechts. Nach links, nach rechts. Wir verbrauchen widerwillig unsere Emotionen, aus Angst ihre Schale zu verschütten. Wir zweifeln, stehen lange auf Kreuzungen und warten auf einen wundersamen Richtungsweiser: Wo wird es uns besser ergehen? Eigentlich müsste alles einfach sein. Erinnert ihr euch an das Märchen aus der Kindheit über Iwan, den Fürstensohn, und den grauen Wolf? Es ritt Iwan auf die Suche nach dem Feuervogel aus, da kam er in ein weites Feld und dort steht ein Pfahl, auf dem alles klipp und klar erklärt ist: „Gehst du gerade aus, wirst du verhungern. Gehst du nach rechts, beißt das Pferd ins Gras, dafür kommst du aber gut weg. Gehst du nach links, wird dir Schreckliches wiederfahren, aber das Pferd wird sich freuen!“ Alles ist elementar: Entweder du oder das Pferd. Verlierst du etwas, so wirst du es an anderer Stelle wiederfinden. Hauptsache, du weißt, was du im Endeffekt willst. Das Gehirn muss nicht angestrengt werden. Keinerlei Philosphie.
Gabelungen auf dem Weg kriegt jeder, unabängig vom materiellen und sozialen Status. Es passiert nicht unbedingt an Silvester, das allgemein als Anfang eines neuen Lebens gefeiert wird, in schöner Verpackung und mit einem goldenen, funkelnden Schleifchen, aber hin und wieder passiert es eben. Wir sind verwirrt, drücken uns vor der Wahl, suchen hektisch nach einem Hinweis. Nach aller Regel tauchen plötzlich aus dem Nirgenwo Ratgeber auf: nahe Verwandte und nicht so nahe, gute Freunde und nicht so gute. Die Verantwortung dafür, wie man die Entscheidung trifft, legt sich als bleiernes Gewicht auf unsere zerbrechlichen Schultern, man möchte sie weit von sich schmeißen. Wir sehnen uns nach einem Zeichen von Droben. Der Himmel schweigt. Natürlich kann auch der graue Wolf einem im Traum erscheinen in der Beraterrolle als eine Art Rettungsring, aber das ist ein selten dokumentierter Fall.
Wie viele Lebensvarianten haben wir, wenn man alle Wendungen berechnet? Eine Unendlichkeit. Welche Uni auswählen, wen küssen, mit wem leben, in welchem Land wohnen, wo arbeiten, und wie überhaupt soll man eine Straße überqueren, ohne gleich überfahren zu werden? Manchmal passiert ein bedeutungsloses Ereignis, das aus unbekannten Gründen ausgerechnet von uns hervorgehoben wird, obwohl andere es auch gesehen haben. Die Wahrnehmung und die Gedankenfolge sind bei allen unterschiedlich. Wir unterscheiden uns von einander in vielerlei Aspekten. Deswegen ist es nicht so leicht, die Reaktion eines Lebewesen vorherzusagen, und das verwirrt alles zusätzlich.
Wer weiß, ob ein aus dem Nest fallendes Küken rechtzeitig die Flügel ausbreiten und hochfliegen kann oder ob es in die Pfoten einer Katze gelangen wird, die seinen Fall beobachtet? Wird die Kraft eines frisch geplanzten Baumsprößlings ausreichen, um nach vielen Jahren auf die Höhe seiner Artgenossen heranzuwachsen, oder wird es im ersten Winter erfrieren?
Die Zukunft ist unbekannt, aber andererseits: Wollen wir sie kennen?

2.
In die Heimatstadt zurückkehren und einen Verlust erleiden. Endgültig.
Im Voraus die nächtlichen Kränzchen mit Freunden auskosten, die seltenen Theaterbesuche und die Spaziergänge über den Roten Prospekt, der der Hauptbroadway meines Lebens geblieben ist. Die kurzen Überfälle auf die Stadt meiner Kindheit waren längst zu einer Gewohnheit geworden, diese geschahen zwar nicht so oft, wie ich es mir wünschte, aber zumindest ein paar Mal im Jahr. Und jedes Mal war da die Vorfreude wie vor einem Feiertag, den man längst kennt. Der Lieblingskiosk mit dem Eis, das seltsamerweise hier besser schmeckte, als am Nachbarstand; das kleine, quirlige Caf; mit den richtig durchgebratenen Pfannkuchen, die verführerisch mit den goldenen Rändern kokettierten; der breite Zentralprospekt, er hatte sich kaum seit meinen Schuljahren verändert und war kreuz und quer durchgestreunt worden, in Einsamkeit und mit Freunden. All das gab mir einen unveränderlich großen Schuss Energie und Munterkeit, sodass mein Mann, wenn er mich bei meiner Rückkehr mit einem Blumenstrauß vom Frankfurter Airport abholte, aufmerksam die Menge angekommener Passagiere nach mir absuchte und seine aufgeblühte und verjungte Frau erst dann erkannte, wenn ich direkt vor ihm stand und die gewöhnliche Frage stellte: „Wie immer suchst du jemanden und nicht mich?“
Zum ersten Mal fuhr ich durch das nächtliche Nowosibirsk am Ankunftstag und bemerkte die grellen Lichter der dämmernden Stadt nicht, die schillernden Reklamen, die rumhängenden Jugendlichen, die vor Bars und den Nachtclubs fröhlich schwatzten und rauchten. Alles wurde ausgeblichen, veränderte in einem Moment die euphorisch schreienden Farben und Töne. Grau füllte den Raum, sickerte langsam aber bestimmt nach innen durch, lähmte die Lungen. Ich wollte mich verstecken, egal wohin, hineinkriechen und die Atmung beruhigen. Überleben, sich an den Verlust gewöhnen, der immer so unerwartet kommt. Tränen legten sich stille Pfade auf dem Gesicht aus, da war nichts zu machen. Ich konnte mich nicht fassen, obwohl ich mich streubte, in fremder Anwesenheit zu weinen. Der in aller Eile gerufene Taxifahrer dämmte den brüllenden Chanson, Dmitri, ein Freund von mir, hielt meine Hand. Das Schweigen war unerträglich, aber das Sprechen wäre unnötig. Der für gewöhnlich gierige, neidisch alle Neuerungen aufsaugende Blick hatte sich getrübt, wurde leer.
„Sowas gibts. Das Herz hat nicht durchgehalten. Dieser Motor währt nicht ewig.“ Die Worte Dmitris werden noch viele Jahre später in meinen Ohren nachklingen.
Ich wollte allein sein, mich mit angewinkelten Beinen in den alten, abgeschabten Sessel einigeln und ausheulen. Dimka begleitete mich höflich bis zu meiner Wohnungstür, gab mir einen brüderlichen Schmatzer auf die Stirn, verschweigend, dass er wie üblich halbtrockenen Abrau-Durceua vorbereitet hatte, wie ich ihn mochte. Zur Feier meines ersten Tages in Russland Champagner trinken, in der Küche bei Kerzenlicht, war unsere Tradition gewesen. An diesem Tag brachen wir sie.
Ich blieb in meiner Wohnung zurück, brühte mir den beim letzten Aufenthalt eingebunkerten Kaffee auf, gab einen Schluck Cognac hinzu - und nach kurzem Nachdenken noch einen Schluck - und mummelte mich in eine Decke ein. Die Erinnerungen spülten im Sturm über mich hinweg, chaotisch, sinnlos übereinander gestülpt und miteinander verschmolzen wie Blitze.

3.
Nun, diese Weggabelung schenkte mir das Schicksal tatsächlich zu Silvester, als ich in der zehnten Klasse war.
Das Lernen in der Schule hatte mir nie Kopfschmerzen bereitet. Mir gefiel das graue, langweilige Schulgebäude und die Atmosphäre des Wettbewerbs in unserem dreimalklugen Jahrgang. Es war eine experimentelle Klasse mit dem Profil für Schach und Mathematik in einer elitären Zentralschule. Manche Klassenkammeraden legten lange Pendelfahrten aus entlegenen Stadtbezirken zurück. Ich konnte mich glücklich schätzen, für mich dauerte der Schulweg nur 25 Minuten zu Fuß. Ein Telefon zu Hause zu haben, galt als ein Privileg für Glückspilze, deswegen gingen wir zum Unterricht eher zum Quatschen, als zum Lernen. Wobei – da gab es auch Ausnahmen. Kuznezov zum Beispiel. Als unserem Kuznezov es gelang, die einzige Vier der Klasse in der Algebraprüfung in der achten Klasse zu schreiben, taufte man ihn bis ans Lebensende einen Hohlkopf. Ich war unter den sechs Klassenbesten. Die Prüfungen schrieben wir mit ausgefahrenen Ellbogen und schützend gespreizten Fingern, damit die Feinde nicht spicken konnten. Wir versuchten einander zu überholen, konkurrierten um die führende Position. Unsere Mathematiklehrerin Nelly Amajakovna war eine wunderliche Tante mit aufbrausendem, armenischem Charakter. Sie liebte ihr Fach und das Herumschreien. Ein Grund fand sich gleich zum Anfang jeder Stunde wie von selbst. Bei Blitz und Donnerschlag konnte man ruhig seinen eigenen Beschäftigungen nachgehen, etwa dem Vorbereiten der Russischhausaufgaben. Nelka brüllte die gewohnte erste Unterrichtshälfte durch, und wenn sie sich danach abrupt beruhigte, konnte man mit Genauigkeit angeben, wie viel Uhr es war. In der Zeit, die ihr noch von der Stunde blieb, brachte sie es zu Stande, uns den neuen Stoff zu erklären, und das so, dass sogar Kuznezov es verstand. Das Schulprogramm schien auf besonders langsame Trottel ausgerichtet zu sein, also beschäftigte ich mich aus Langweile schon in der zehnte Klasse mit den Fermatschen Sätzen. Natürlich versuchte der Großteil der Klasse sie heimlich, nachts im Licht der Nachttischlampe als erster zu beweisen. Aber offensichtlich waren wir dafür doch nicht schlau genug.
Das Neue Jahr rückte näher. Im letzten Schuljahrgang wollte man etwas Besonderes veranstalten, etwas, das man lange im Gedächtnis behalten würde. Alle verstanden, dass wir nach der Schulzeit ausschwärmen werden, und wer weiß schon, wann man sich wiedersieht? Eng befreundet war unsere Klasse zwar nicht, denn die weite Entfernung zwischen den Wohnorten barg doch Konsequenzen, aber Feindschaften gab es auch nicht. Die Eltern bemühten sich, uns vielseitig weiterzubilden, obwohl die Belastung von Schach und Mathematik wenig freie Zeit übrig ließ. Wir besuchten Theateraufführungen, unternahmen Exkursionen zu Milchfabriken, Konditoreien und Schockoladenherrstelltern, kurzum: Dahin, wo unsere Eltern selbst arbeiteten. Ich mochte diese Ausflüge. Obwohl wir schon erwachsen waren, wurden wir am Ende jeder Führungen freundlich betätschelt und mit den ausgefallensten Leckereien gefüttert, das es in den Fabriken gab. Man kümmerte sich um uns wie um eine Krippengruppe, nach dem Motto: Das Beste ist für die Kinder.
Unsere Schlemmerfahrten nahmen ein jehes Ende nach einem Musterbeispiel von Völlerei in einer Brotfabrik. Wir haben noch nie davor gesehen, wie Torten gemacht werden, geschweige denn solche Mengen davon. Wer konnte widerstehen, wenn auf die Torten so schöne, bunte Reihen von Butterröschen  aus großen Stofftrichtern gezaubert wurden? Die Dekorationsfiguren gelangen schnell und flink. Wir verteilten uns auf alle Produktionsstationen und beobachteten hypnotisiert diese Offenbarungen. Torten zählten nie zu den Grundnahrungsmitteln und kosteten nicht wenig, deswegen verwöhnten uns unsere Eltern nicht damit. Das Süßigkeitenparadies stieg uns zum Kopf hoch. Die Arbeiterinnen, rundliche Fräulein in weißen Kochmützen, verzettelten sich unter den aufdringlichen Blicken hinter ihrem Rücken - die süßen Kunstwerke wurden zur Mangelware. Wir starrten gemeinschaftlich mit hungrigen Blicken, ähnlich den mitleiderregenden Katzenjungens aus dem antiken, sowjetischen Zeichentrickfilm „Das Katzenhaus,“ und man opferte uns einige der schief geratenen Schätze. Wir aßen gewissenhaft und viel – wenn schon, dann für das ganze Leben. Kein Wunder, dass mein Körper nun beim Anblick einer Torte in der Konditorei mit einem Würgreflex reagiert. Am Ende unseres Rundgangs führte uns der barmherzige Führungsleiter zu dem riesigen Bottich, in dem Arachis gebrannt wurde. Verständlich, dass wir uns damit die Taschen in den Schuljacken und Kitteln bis zum Zerreißen füllten. Wir versengten uns die Finger, pusteten auf die Hände und griffen wieder in die Glut. Am nächsten Tag kam nur Kuznezov in die Schule, aus einfachem Grund: Er hatte bei dem Brotfabrikausflug gefehlt. Übrigens mag ich Arachis inzwischen auch nicht.
Um künftig solche Exzesse zu vermeiden, veranstaltete man keine weiteren Führung mit anschließender Opfergabe in Form von Bonbons, Torten und sonstiger Lebensmittel. Zur Feier das kommende Jahres, etnschied man sich für einen Ausflug in das Museum des Steinistituts. Den Mädchen wurden kleine Geschenke versprochen. Die weibliche Vorstellungskraft uferte aus, zumal im Fernsehen die vorsilvesterliche Werbung lief, und eine von ihnen war besonders faszinierend: „Die besten Freunde einer Frau, das sind Diamanten.“ Im Anschluss wie üblich Disco mit Wettberwerben.
Vom Neuen Jahr erwartet man immer etwas. Einem scheint es, dass genau an diesem Tag das ganze Leben sich verändern wird und anfängt, sich wild zu drehen, in einer grellen, Nerven aufreibenden Achterbahnfahrt. Bezweifle, dass man einen Menschen finden wird, der in seiner Kindheit die Tage bis zum Treffen mit dem Väterchen Frost im Kindergarten nicht abgezählt hatte. Jeder weiß noch, wie die Stimme versagte, wenn man sein Gedicht vortrug, das beste, das man auswendig konnte. Und wenn man danach endlich den kleinen, knisternden Zellophanbeutel in die Pfoten gedrückt bekam, mit zwei Mandarinen, einer Waffeln und einem Haufen Schockolade? Die Freude kannte keine Grenzen. So gesehen braucht es zum Glück ganz wenig. Mit den Jahren vergeht der Glaube an Wunder. Väterchen Frost und Snegurochka kommen nicht mit ihrem Schlitten aus Lapland, sondern wohnen in der Nachbarschaft. Aber die Erwartung von etwas Neuem, dem Schlag der Uhren, des Champagner bleibt für das ganze Leben. Am stärksten spürt man ihn in der Jugend.
Das Neue Jahr in der zehnten Klasse habe ich noch sehr gut in Erinnerung, auch wenn es wohl kaum mit der Schule zusammenhing.

4.
Entgegen den Familientraditionen verbrachte ich die winterliche Fest nicht zu Hause. Am Vorabend lud mich Nataschka, die zukünftige Braut meines Bruders, für das Silvester in eine Diskothek in das Wohnheim der Radiotechnischen Fakultät von NETI ein, wo sie studierte. Der erste Auftritt in „weltlicher Gesellschaft“ insperierte mich, eine kleine Schülerin, zu zuvor unvorstellbaren Heldentaten. Das gründliche Bügeln des Kleides, das ich nach meiner älteren Schwester erhalten hatte, zählte noch zu den geringeren Leistungen. Ich machte mir das Haar, quälte und wälzte mich die ganze Nacht in harten Lockenwicklern, die einst Sadisten erfunden hatten. Mir gelang es sogar, etwas auf meinem Gesicht darzustellen, mit Hilfe des kosmetische Arsenals meiner Mutter, der nach heutigem Maßstab nicht groß war, aber ich besaß so etwas ja überhaupt nicht. Der Doppelgänger im Spiegel lächelte seinem Gegenüber zu, die Augen sprühten launische Funken, wir gefielen einander. Ich fühlte mich als ein Frühlingskorb voller Blumen. Aus den Blicken meiner Eltern, die mich mit Glückwünschen und Mahnungen verabschiedeten, war verständlich, dass unsere Meinungen in Bezug auf den Frühlingskorb sich unterschieden, aber das konnte zu dem Zeitpunkt nichts mehr verändern.
Es war beschlossen das Neue Jahr bei Natkas Freundin Lena zu treffen, die in der Nähe der Universität lebte, und dann sich zur Diskothek aufzumachen. Somit unterschied sich die Feier an sich nicht von all den Jahren davor: Papa, Mama, einige Freundinnen, Olivier, Hering im Pelz, Vogelmilch und das Anstoßen mit den Champagnergläsern, während die Uhren zwölf Schläge abzählte. Obligatorische Glückwünsche an das liebe Ich. Was man sich konkret wünschen sollte, wusste keiner so Recht – es schwebte einem etwas Wages vor, etwas, das in allen Farben des Regenbogens schillerte. Wir klackerten fleißig mit den Schnäbeln, leerten die von den Eltern fürsorglich gefüllten Teller mit einer solchen Geschwindigkeit, als könnten wir es gar nicht mehr abwarten, diesem wagen Etwas nach dem Festmahl entgegenzupirschen.
Alle Mädchen im NETI hatten schon einiges über die Partys auf dem RTF gehört. Die Gerüchte variierten stark, aber das heizte nur die Neuegier an. Eines wussten wir sicher: Wenn es dort auf zehn Jungs wenigstens ein Mädchen gab, galt das schon mal als gut. Zugegeben, war das der Hauptgrund, dahin zu gehen.
Lenas Eltern glichen den meinen in Bezug auf die Aussagekraft ihrer Blicke und ihre Ermahnungen. Auch sie gaben zu verstehen, dass sie immer noch gegen unser Vorhaben waren, und führten sich auf, als schickten sie uns in die Höhle des Feindes. Obwohl sie durch die Kriegsbemalung auf unseren Gesichtern, die an Bilderbuch-Indianer vor dem Angriff auf den Nachbarstamm erinnerte, längst verstanden haben, dass jegliche Einwände sinnlos waren. Aber zum Reinhalten des Gewissens, nach dem Motto, sie hätten uns ja gewarnt, musste man etwas sagen, also sprachen sie eben. Auf den Weg kriegten wir das Gebäck und die Schockolade von der Festtafel nach, um sozusagen die bekannten Jungens zu erfreuen.
Das erste Wohnheim von NETI war in einem riesigen Gebäude aus der Stalinzeit mit altertümlich hohen Stockwerken untergebracht. Studenten und Lehrende nannte es liebevoll „Kopejka“. Dieses Haus umgarnten viele Legenden: Feuerausbrüche, Selbstmorde, Genies, die dort in rauen Mengen lebten, und die dort in genauso großen Mengen lebenden Dummköpfe. Was es in der Kopejka nicht alles gab! Allein Erdbeben soll es dort wohl nicht gegeben haben, schließlich ist es ja in Sibirien. Auf dem ersten Stockwerk kam man in einen Saal, wo geprobt wurde und manchmal Konzerte unserer ersten sibirischen Rocker stattfanden. Einige von ihnen pilgerten Jahre später, entdeckt von den Raritäten aus den Metropolen, nach Moskau oder Sankt-Petersburg und trugen ihre Musik nicht nur einem Haufen hipper Studenten vor, sondern dem ganzen Land Seite an Seite mit den Rockältesten.
Trotz der guten Schallisolierung des Saals hörte man schon beim Näherkommen den schweren Rhythmus von Metal. Die Wände zitterten, die Fenster klirrten wie bei einem Bombardement der nächtlichen Stadt durch feindliche Messerschmidte.
Die bekannten Jungs von meinen Freundinnen warteten unten auf uns und führten uns in ein großes aufgeräumtes Wohnheimzimmer. Ich war die jüngste, verspürte aber deswegen kein Unbehagen. Da ich einen älteren Bruder hatte und oft mit seinen Freunden unterwegs war, fühlte ich mich in männlicher Gesellschaft in meinem Element.
Das Wort „Perestroika“ kannte man in Sibirien noch kaum. Aber die Dämmerung neuer Veränderungen brachte schon die ersten Lichtstrahlen herein. Bis zum Zenit würde diese Sonne allerdings noch eine Weile brauchen. Zu dieser Zeit flimmerte im Fernseher in den Feiertagen koservativ ein und dieselben Gesichter: Kobzon in unveränderlich kurz geschnittener Perücke, Leont’jev mit der Haarmütze, der einem lebensfröhlichen Pudel mit chemischer Lockenkur ähnelte, der intelligente Hil’, Pugachjeva in ewigen Kartoffelsäcken und Co. Dank der Leute in der „Kopejka“ hörte ich zum ersten Mal „Die khackifarbene Kugel“, „Die Major-Jungs“, „Aluminiumgurken“ und vieles weitere. Ab da begriff ich, dass Popsa für mich nicht mehr existiert. „Modern Talking“, „Die Weißen Rosen“ und alles andere über Rosen waren auf dem Brunnen meiner Jugend vergessen. Russischer Rock nahm Fahrt an, kletterte aus dem Untergrund hinauf und schrie: „Wie lange kann man noch von Kleinigkeiten leben?“ Zu sagen, dass diese Lieder mich interessierten, wäre gewissenslos untertrieben. Aber zu ihnen tanzen? So eine Idee käme nicht mal im hintersten Winkel meines angetrunkenen, benebelten Bewusstseins auf. Unsere Gastgeber waren freundlich und offen, ganz normal und keine Psychopathen, entgegen den „Hoffnungen“ unserer Eltern. Man sprach über die anstehende Prüfungsphase, die neuen Lieder von „Nautilus“ und „Aquarium“, die Stunden verflogen wie unter Studenten üblich sorglos. Nachdem wir Mädels ein wenig Champagner runtergespült haben zu Ehren des Neuen Jahres und des „Wiedersehens“, fanden wir den nötigen Mut in uns, um die Tanzfläche ins Visier zu nehmen.
  Was es dort zu sehen gab, erschütterte meine Vorstellung. Die Bezeichnung „Diskothek“ verfehlte definitiv den Punkt. Nur „Hüpfparty“ konnte dem gerecht werden. Später erfuhr ich noch einen Begriff für jene Tanzart: „Korchi.“ Ein riesiges Zimmer, weiße Wände, von denen Wassertropfen rannen, erdrückende Luft, Hitze, alles ähnelte einer Sauna. Denke, bleierne Kessel auf Bänken und Birkenfeger wären genau richtig. Große Boxen peitschten einen harten Rhythmus. Zwei Ampeln, von denen keiner wusste, wie und von wo sie dahingekommen sind, standen zu beiden Seiten der Bühne und blinkten verzweifelt. Man kam sich vor wie auf einer unadequaten Kreuzung. Die Tänzer, manche mit nacktem Oberkörper, schwankten synchron wie Zombies vor und zurück, vor und zurück. Damals konnte man sich zu Rock tanzende Menschen schwer vorstellen, das musste man sehen. Uns haute das völlig vom Hocker. Aber schon bald schauckelte wir genauso zum Takt der Musik. „Marsch, marsch, links! Marsch, marsch, rechts! Ich sah noch nie eine schrecklichere Menge, als die khackifarbene Menge!“, deklamierte Butusow aus den Boxen.
Etwa nach fünfzehn Minuten wurde uns die Hitze und die Energie zu viel, und Nataschka und ich gingen raus, um frische Luft abzubekommen. Meine Güte! Wie wir aussahen! Das Gelächeter schnürrte uns die Kehlen zu, wir starrten einander an wie in einen Spiegel. Die Schminke floss über das ganze verschwitzte, rote Gesicht. Grässliche Haare, die scheinbar einen Monat nicht mehr gewaschen waren. Der nächtliche Alptraum mit den Lockenwicklern fiel mir wieder ein. Ob die Quälerei es wert war? Wir hätten sicherlich ohne Probleme beim Casting für die stark umworbene Rolle der Baba-Jaga in irgendeinem Kinderblockbuster gewonnen. Die Suche der einzigen Frauentoilette in der „Kopjeka“ dauerte länger, zumal sie sich komischerweise im dritten Stockwerk befand. Nach dem Abwasch sahen wir wieder mehr oder weniger wie wir selbst aus.
„Hallo, Mädels“, ertönte es, als wir die Treppen hinunterstiegen. „Na, ähnelt ihr wieder normalen Menschen?“
War es Liebe auf den ersten Blick? Kaum. Doch ob wegen dem getrunkenen Alkohol oder wegen der feierlichen Stimmung des Neuen, das den Effekt leichter Betäubung trägt, dieser junge Mann weckte in mir auf Anhieb ein brennendes Interesse. Kein Schönling, aber mit offensichtlich außergewöhnlichem Äußeren. Wundervoller Lockenschopf, dickes, zurück gekämmtes Haar, volle, ungehorsame Augenbraun, große Brille. Ruhiger, offener Blick, mit einem Funken Spott darin. Sein Aussehen erinnerte sehr an den Liebling des jungen Fernsehpublikums Vlad List’jev, der oft auf dem Bildschirm geisterte. Die Schweigeminute am Treppenende überschritt die gebührende Länge.
„Goworkov“, stellte sich der neue Bekannte vor. Und nach kurzem Nachdenken, fügte er hinzu: „Egor.“

5.
 Goworkov eroberte mein Leben im Sturm. Zielstrebig, plötzlich, ohne nach der Erlaubnis zu fragen. Er füllte mit sich den ganzen Raum aus. Es schien seltsam und surreal, dass eine Woche zuvor ich Goschka gar nicht gekannt hatte. Er war schon immer da, dieses Gefühl wich in keiner Minute. Trotz des Altersunterschieds von fünf Jahren, verspürte ich nie eine erwachsene Fürsorge von seiner Seite, er versuchte mich nicht zu erziehen oder mich zu verändern - obwohl ich noch eine Schülerin war, und er fast die Uni beendet hatte. Egor war zweifelsohne eine schillernde Persönlichkeit. An Bekannten hatte er einen Zug und ein kleinen Waggon. Man schätzte ihn für die lockere Zunge, nahm ihn in jeder Gesellschaft auf und erkannte ihn ohne Widerrede als einen Cliquenführer an. Goworkov schrieb Gedichte: ernste und ulkige, lustige und rührselige; kaum geschrieben, zupfte er schon auf der Gitarre eine passende Liedmelodie. Man hätte ihn wohl nicht als Sologitarristen bei den Scorpions oder Led Zeppelin vorgeladen, aber die Kenntnis dreier Akkorde festigte seinen Ruf als „der Typ mit der Gitarre.“ Mit den ewigen Sticheleien und seinen funkelnden Augen war er das beste Gegenmittel bei Depressionen, ob es ein Streit mit den Eltern war, eine Zwei in der Schule oder lang anhaltender Regen hinter dem Fenster. Wie ein geborener Dresseur ließ er mich sich allmählich an ihn gewöhnen. Zuerst kamen Telefonanrufe, unaufdringlich, jeden zweiten, jeden dritten Tag, dann täglich. Später schneite er selbst vorbei, wachsam, als erkunde er ein für ihn neues Terretorium. Es war noch kein Monat vergangen und ich wusste schon nicht mehr, wie man ohne Goworkov den Tag verbringen sollte. Er arbeitete, schrieb Artikel im Studentenmagazin „Energia“, war freiberuflicher Mitarbeiten bei einigen Zeitungen Nowosibirsks, studierte. Ob er überhaupt Zeit zum Schlafen fand? Goga wollte überall gleichzeitig sein, wollte ein erfülltes Leben.
Außer der klassischen Musik, die meine Eltern hörten, tönte nun auch Rock durch unsere Wohnung. Allerdings, um einem Generationskonflikt vorzubeugen, nur wenn die Eltern nicht zu Hause waren. Goschka schleppte den antiken, seine goldenen Jahre verlebten Kassettenspieler „Elektronik“ an, und wir lauschten zusammen Nautilus, Aquarium, in außerordentlich grauenvoller Qualität den ersten Alben von „Zivilwehr“ und „Kalinovs Brücke“, aufgenommen in der Kopejka. Die Anziehungskraft Goworkovs kannte keine Grenzen. Mamachen blühte auf bei seinem Erscheinen, fütterte ihn und verging vor Komplimenten, mit denen mein Vater geizte. 
„Heute ist die Erbsensuppe wirklich gelungen. Und an die Kohlrouladen vom letzten Mal erinnere ich mich immer noch“, erklang es in einem Fort aus der Küche.
Mein Vater und ich kriegten uns vom Lachen im Nebenzimmer nicht mehr ein, weil es schier unmöglich war, diesen Zirkus auszuhalten. Mein Mamachen besaß einige Schwächen, das Kochen konnte man tapfer dazuzählen. Die Besuche Goschkas beflügelten sie sogar zum Backen, was uns ohne Zweifel erfreute. Aber diese Medallie hatte auch eine Kehrseite: Die Häufigkeit von Kohlrouladen und Erbsensuppen auf unserem Essenstisch grenzte an Misshandlung.
Egor las sehr viel, kannte sich gut mit Politik aus und konnte immer in den intellektuellen Gespräche mit meinem Vater mithalten. Mein Vater taufte ihn den sprechenden Vogel, der – selbstverständlich – sich durch Verstand und Findigkeit auszeichnete, was man als höchste Stufe des elterlichen Wohlwollens auffassen durfte. Der sprechende Vogel nistete sich fest in unsere Familie ein.
 Im Fernsehen starteten seit einiger Zeit neue Sendungen, die den journalistischen Durchbruch der Perestrojka bedeuteten. Freitags lief „Wzgljad“ mit den jungen Moderatoren List’jev, Zaharov und Ljobimov. Unformell, fast schon in Hauspantoffeln sprachen die Moderatoren in live-Übertragung von nichts grundlegend Neuem oder tödlich Gefährlichem, aber die Art, wie das Material aufbereitet wurde, die Diskussionen, die Äußerung eigener Ansichten machten dieses Programm für diese Zeit bemerkenswert. Außerdem gab es in den Musikeinlagen die Möglichkeit, sich gegenwärtige Musikvideos anzuschauen. Am Samstag kam „Do i posle polunochi s Molchanovym.“ Beide Teile der Sendung wurden gegen Mitternacht ausgestrahlt, nicht gerade im Prime Time. Dennoch klebte der Großteil des Landes am Bildschirm. Das neue Format wurde vorerst mit Vorsicht in der Küche unter Nahestehenden besprochen, nach und nach teilte man die gewonnenen Eindrücke mit wachsender Selbstsicherheit sogar am Arbeitplatz. Waren schwarz-weiße Fernseher ein Privileg, so galt farbiges Fernsehen als ein Geschenk des Schicksals, und da wir über ein solches verfügten, übernachtete Goga bei uns manchmal und diksutierte und stritt sich bis in die Morgenstunden mit meinem Vater über das Gesehene.
Goworkov fühlte sich wohl in unserer Wohnung, in meinem Bewusstsein, aber seine Privatsphäre hütete er sorgfältiger als Koshej, der Unsterbliche, die für ihn tödliche Nadel im Ei.. Ich kannte seine Kumpel, Kommilitonen, seine Arbeitskollegen, aber ich wusste überhaupt nichts über sein Leben. Wer seine Eltern waren, mit wem er wohnte, und - überhaupt – wie er sich so fühlte, ob er hin und wieder Einsamkeit empfand? Aller Logik nach finden sich solche einsamen Momente im Leben jedes Menschen. Mir blieb es, mich mit dem oberflächlichen Bild des „fidelen Hauses“ zu begnügen.
Von Egors unbekannter Seite erfuhr ich unerwartet. Er tauchte mehrere Tage nicht auf, was für unser Verhältnis vollkommen ungewöhnlich war. Ich machte mir Sorgen.
„Wo ist denn unser sprechender Vogel hin? Sagt nicht, er ist in wärmere Länder weggeflogen“, beklagte sich mein Vater. Er hatte niemanden, um die letzten Nachrichten zu bereden.
Eines Samstags weckte mich ein früher Telefonanruf auf.
„Kannst du zu mir kommen?“, fragte mich eine fremde Stimme. Goschka war betrunken.
Nach schnellem Zusammenpacken eilte ich an die Adresse, die er mir durchgegeben hatte. Ein unauffälliges Stadtviertel, eine unauffällige Wohnung in grauem Wohnhaus. Dafür war Egors Erscheinungsbild erstaunlich farbenprächtig. Von Schlaflosigkeit aufgequollene Augen, Dreitagebart, zu allen Seiten abstehendes, ungehorsames Haar. Das Bild wurde durch ungespültes Geschirr, leere Flaschen, einem Haufen Zigarettenstümmel und wahrhaftiger Unordnung ergänzt.
„Verstehst du, die haben so einen Artikel nich’ durchgelassen! Und warum das? Perestrojka steht vor der Tür und die sin’ wie Dinosaurier in der Bärenhöhle. Wir sitzen da, die Köpfe in unsere Küchen gesteckt, in unsere Weltchen. Ne, sagen die, der Artikel is’ toll, aber gedruckt wird er nich’. Weißt du, alles is’ gut, aber scher dich zur Hölle!“ Goworkov war einer Hysterie nahe.
Ich verstand nichts, nickte aber gehorsam mit dem Kopf als Zeichen der Zustimmung. Nach einigen Tassen Tee und ein paar Zitramon-Tabletten fing Egor an, sich zu beruhigen. Ich hörte ihm aufmerksam zu, ohne zu unterbrechen. Ich spürte zum ersten Mal, wie nah mit dieser Mensch war, und wie sehr er meiner Unterstütztung bedurfte, eines doch noch so kleinen Mädchens. Goschka hielt dankbar meine Hand.

***
Seltsame Zeiten waren es, seltsame Schicksale...
Goworkov war seit der Kinderheit mit Pjotr befreundet, der in der nächsten Anfahrt wohnte. Als beste Freunde sahen sie einander nicht. Da sie sich aber seit Ewigkeiten kannten, wurden sie fast wie Verwandte behandelt. Petja unterschied sich schon in der Schule von seinen Altergenossen durch kräftigen Körperbau und hervorragende Gesundheit. Er holte nicht selten Goga aus Prügeleien von Hinterhöfen ab. Wegen seiner spitzen Zunge steckte Goworkov oft in Schwierigkeiten, aber gut zuschlagen konnte er nicht. Für diesen Fall stand stets der nicht so schlaue, aber dafür übezeugende Schläge austeilende Pet’ka bereit. In die Universität schaffte Petja es nicht, weil dafür seine Punktezahl in den Bewerbungsprüfungen nicht ausreichte. Also gab er sich mit der Avia-Technischen Schule zufrieden. Bis zum Einzug in die Armee blieb ihm noch ein Jahr und er wünschte sich sehr, noch etwas zu lernen. Die achtezehnten Geburtstage feierten sie laut und lustig mit der ganzen Hofsclique, glücklicherweise folgten die Geburtstage in ihrer Gruppe einer nach dem anderen.
Goworkov wurde wegen Kurzsichtigkeit nicht in die Armee einberufen, während Pjotr in die Lehreinheit nach Otar in der Nähe von Kirgisthan fuhr, wo die jungen Männer ein halbes Jahr auf den Wehrdienst in Afghanistan vorbereitet wurden. Auf diesem Weg gelang Petja mit seinen Kammeraden in einen der gefährlichste Orte auf dem Planeten. Zuerst kam der Schock, dann stumpften die Sinne ab, die Angst verschwand, und Pjotr wurde zu einem tapferen Kämpfer und trug beizeiten auf den eigenen Schultern verwundete Genossen aus dem Feuer hinaus. Das Einzige, an das er sich nicht gewöhnen konnte, war der Tod. Petja selbst wurde nie verletzt, nicht mal durch einen Splitter, sein Glücksstern hatte ihm offensichtlich die richtige Seite zugekehrt. Nach durchgestandenen zwei Jahren, zu denen man verpflichtet war, konnte er seine Kriegsfreunde nicht am Brennpunkt zurücklassen, die Rückkehr nach Hause erschien ihm als eine herzlose Flucht. Deswegen blieb Petja. Nachdem er und einige Männer unversehens auf einen Hinterhalt gestoßen sind und eingekesselt wurden, erlitt Petja schwere Quetschungen und wurde am Arm verwundet. Als Petja mit anderen Soldaten, die medizinische Hilfe brauchten, ins Hospital eingeliefert wurde, war viel Zeit vergangen, die Wunde eiterte, eine Infektion hatte angesetzt. Der linke Arm musste amputiert werden. Mit dem einen Bein im Jenseits, überlebte Pjotr es, aber er kam nach Hause zurück als Krüppel. Die Kämpfer aus Afghanistan hieß man als Sieger willkommen, aber dam Land waren sie nur jung und gesund vom Nutzen, und erst recht nicht mit angeschlagener Psyche. Petja diagnostizierte man zum Invaliden zweiter Gruppe und versprach ihm eine erbärmliche Rente, ungeachtet all der Auszeichnungen für den erwiesenen Mut. Arbeit fand er keine und wurde langsam Alkohliker unter dem Blick seiner vor Trauer erschlagenen Eltern.
Umso mehr tat es weh, dass man im Februar des Jahres 1988 von den Vorbereitungen zu einer Vertragsunterschrift zwischen der sowjetischen und der afghanischen Seite, und dem anstehenden Rückzug unserer Truppen verkündete. Den Krieg in Afghanistan hatte keiner gebraucht.

***
Goschka versuchte mit allen Kräften eine Arbeit für seinen Nachbarn zu finden, das stellte sich als eine unlösbare Aufgabe heraus. Eine Ausbildung hatte Pjotr nicht, eine antreten konnte er nicht mehr wegen den Quetschungen, selbst wenn der Wille seinerseits da wäre, und dann noch ohne Arm... Petja gelang es nicht, sich an das normale ruhige Leben zu gewöhnen. Nachts wachte er vom eigenen Schreien in kaltem Schweiß auf, zum zigsten Mal die Geschehnisse in Afghanistan durchlebend, die Tode seiner Freunde. Ausweglose Situation. Goworkov wollte die Öffentlichkeit auf Petjas Fall aufmerksam machen, denn dies war kein Einzelschicksal. Er verfasste darüber einen langen Artikel, doch das Material wurde von keiner einzigen der Zeitungen, in denen Goschka arbeitete, angenommen. Die Zeit sei nicht reif. Egor nahm alle Ungerechtigkeiten sich sehr zu Herzen, wie ich später begreifen sollte. Ich fühlte damals fast physisch, wie er innen litt.
Nach diesem Zwischenfall erkannte ich, was für ein feinfühliger und zerbrechlicher Mensch Goworkov war. Nun erkundete ich einen mir unbekannten Bereich seiner vielseitigen Persönlichkeit. Vom Vater hatte Goga nur ein paar ausgeblichene Erinnerungen, er lebte mit seiner Mutter zu zweit in einer kleinen Wohnung. Die Mutter, die die Ideale der Gesellschaft und die Verantwortung für die Erziehung ihres einzigen Sohnes tief verinnerlicht hatte, verhielt sich ihm gegenüber kühl und distanziert, sich davor fürchtend, mit übertriebener, mütterlicher Fürsorge den Jungen zu verderben. Goworkov bevorzugte es deswegen, die Zeit allein zu verbringen, wenn die Mutter auf Arbeitsreisen wegfuhr. Dann schrieb er wunderbare Gedichte, die er für gewöhnlich im Bad und mit nicht wegzudenkender Zigarette im Mund schrieb. Manchmal brachte er sie mir, damit ich sie billigte. Natürlich schmeichelte mir das.
Eines Tages flatterte der sprechende Vogel mit funkelnden Augen bei uns herein.
„Auf zum Jazz! Stell dir vor, Kozlov kommt zu uns. Ist das nicht toll! Ich hab uns schon Karten besorgt“, Goschka war über alle Maße mit sich selbst zurfrieden.
„’Heute spielt er Jazz und morgen verkauft er das Vaterland’“, kommentierte mein Vater die freudige Nachricht.
Außer Ella Fitzgerald (mein Vater hatte durch irgendwelche Bekannte eine ihrer Platten auftreiben können) hatte ich von Jazz nichts gehört und nahm Goworkovs euphorische Begeisterung skeptisch auf. Er ezählte, vor Aufregung die Worte verschluckend, wie sich die Nowosibirsker Musikszene auf das einzige Konzert dieses Saxophonisten freute.
Das Konzert fiel auf meinen siebzehnten Geburtstag. Ich war erwachsen geworden, so dachte ich zumindest damals. Das Telefon kreischte nicht vor lauter hereinstürmenden Anrufen und  Glückwünschen. Ich wollte keine großen, lauten Feierrunden mit den unterschiedlichsten Gästen.
„An deiner Seite müssen nur Freunde sein, vor allem an persönlichen Feiertagen“, sagte mein Vater immer. „Und an Freunden hat man aller Regel nach nicht viele, wenn überhaupt.“
Also gab es Einladungen für drei gute Freundinnen und Goworkov. Goschka schleppte sich schon am frühen Morgen mit einem riesigen Strauß rosafarbener Rosen an, die ein Vermögen auf dem Markt kosteten. Die Feier war gelungen. Unser sprechender Vogel strahlte mit seinem Charme und stand wie immer im Zentrum der Aufmerksamkeit. Ich berste vor Stolz um einen solch eindrucksvollen Verehrer.
Am Abend gingen wir zum Auftritt von Alexej Kozlov, das in familiärer Atmosphäre gehalten wurde, in einem kleinen Caf; auf der Orjonikidze. Egor stellte mir die Leute vor, die Jazz spielte oder – um genauer zu sein – versuchten Jazz zu spielen. Eines verwunderte mich bis ins Innerste: Wie schaffte es Goga, der mit so vielen Menschen vertraut war, seinen Flurnachbarn nicht zu kennen? Das Konzert verlief wunderbar, in einem Atemzug. Seit dem Abend verfiel ich Jazz, und besuchte mit Genuß die Auftritte und manchmal auch die Proben der neuen Bekannten.
Ich wusste nicht – und interessiert mich auch nicht dafür – wie Goschka bei so einem erfüllten Lebenswandel es fertig brachte, an den Pflichtveranstaltungen in der Uni und sogar an den nötigen Prüfungen teilzunehmen. Vielleicht war er ein Genie? Meine Leistungen rollte abwärts, und das war nicht die Richtung, die meine Lehrer und Eltern bevorzugt hätten. Bei der Anzahl der Dreier, die sich vervielfachte trotz der Elterngespräche in der Schule, winkte die Silbermedallie, die man mir nach dem ersten Halbjahr prophezeite hatte, mit dem Pfötchen und verblieb im Entwicklungsstadium einer Prophezeiung. Mein Interesse weckten nur noch meine Lieblingsfächer: Mathematik und Literatur. Mathe brauchte ich, um meine Autorität beizubehalten, damit meine Klassenfeinde sich nicht die Nase verränkten wegen ihrer Wichtigtuerei. Was wäre schließlich, wenn jemand der fermatschen Sätze bewies und dieser jemand nicht ich wäre? Solche Unzulänglichkeiten konnte ich natürlich nicht zulassen. Naja, und die Literatur. Ich mochte es, den Schlaumeier herauszuhängen und Goworkovs Bekanntenkreis mit neu aufgeschnappten Worten und Fakten aus Büchern zu überrumpeln, die Bekannnten waren ganz baff von so viel kindlicher Intelligenz. Ach, diese Ambitionen!
Nach der sowjetischen Stille lebte das Musikgeschehen noch stärker auf und erfreute mit neuen Bands. Manche waren Eintagsfliegen, manche nicht. Sie vermehrten sich wie Bienen im Bienenstock zur Zuchtzeit unter dem Blick eines erfahrenen Züchters. Das bunte Kaleidoskop der Musikrichtungen hatte für jeden Geschmack und alle Sehnsüchte etwas zu bieten. Es genügt, die zahlreichen Gruppe, die den Namen „Mirage“ führten, zu erwähnen, die mit ein und denselben Liedern durch das Land tourten und schier wegen nacktem, jugendlichem Enthusiasmus fortbestanden. Aus der Erde sprossen solche Strömungen wie Punk, Garage Rock, Psychedelia. In Nowosibirsk traf man nicht nur Majore, sondern auch Punks und Hippies. Sie versammelten sich zuerst in privaten Wohnungen, um sich gebührend anzukleiden, und pilgerten danach zum Roten Prospekt oder zum Flussufer, um dort herumzugammeln. Allein in solchem Aufzug auf die Straße zu gehen traute sich noch keiner, aus Furcht, die Haare abgeschnitten zu bekommen, verprügelt oder sogar von der Polizei eingebuchtet zu werden.
Im April fand in Nowosibirsk das Rock-Festival statt. Die Karten waren längst ausverkauft. Obwohl man sie natürlich auch von den Schwarzhändlern zum Preis eines Flugzeugs bekommen konnte. Goworkov kannte einen Maler, der uns von Hand zwei Karten für zwei Tage anfertigte. Ein wahrer Glücksfall! Das Festival residierte eine Woche im Chkalov-Schloss, dass man im Volk Chekold; nannte. Jeden Tag traten mehrere Musikgruppen auf. Egor wollte zu den Konzerten, bei denen Letov und Rewjakin mitwirkten. Zu Ehren solch eines Ereignisses lieh ich mir sogar ausgefranste Jeans von einer Freundin. Unser Eintritt mit den gefälschten Tickets verlief makellos. Das Einzige, das die Stimmung trübte, war die Tatsache, dass die Festivalbesucher  sich im Chekold;-Saal quetschten, wie Sardinen in der Konserve. Wir setzten uns, wie einige andere auch, auf die Treppe am Durchgang. Das bunt gemischte Publikum beeindruckte mit seinem Kolorit. Es schien seltsam, dass in einem Saal Punks, Hippies und alles städtische Gesindel ruhig koexistieren konnten. Allerdings sollte man dazu erwähnen, dass praktisch neben jedem ein Polizist mit Schlagstock stand. Die Polizisten tummelten sich zusammen wie zu einer Straßendemonstration. Neben uns kauerte sich eine Punkgruppe nieder. Ihre Hahnenkämme schillerten in gelb-blau-grünen Farben, wenn auch ihre schwarze Kleidung das Farbenfrohe der Frisuren verdüsterte. Die Hippies mit ihren langen Haaren, zerrissenen Jeans und den Flechtketten an Hals, Händen und Köpfen schauten viel fröhlicher drein. Und die „Homies“ erkannte man an der Sportskleidung mit dem modischen Aufdruck Adidas.
Zur Abrundung des Tages sollte die Band „Adolf Hitler“ auf die Bühne kommen, die eher unbekannt war, aber mit ihren politischen Texten von sich Reden machte. Ihr Einsatz verzögerte sich, man musste die Technik wieder herrichten. Aus dem Publikum ertönten Pfiffe und Schreie. Doch als die Jungs endlich heraustraten, wurde plötzlich die Elektrizität abgeschaltet. Mit ans Licht gewöhnten Augen etwas in völliger Finsternis erkennen zu wollen, ist zwecklos. Es kehrte eine die Ohren sägende Stille ein.
„Bleibt, wo ihr seid! Bitte, Ruhe bewahren!“, verkündete eine herrische Stimme durch einen Schalltrichter.
Noch ehe die Angst durch die Venen hetzen konnte, hörte ich Goschka Flüstern: „Alles in Ordnung. Ich bin bei dir.“
So saßen wir auf der Treppe. Mit seiner Hand auf meiner Schulter wallte in mir das angenehme Gefühl der Sicherheit auf, erweckt von der Nähe dieses Menschen. Auf einmal berührte er mich am Haar, drückte näher zu sich, fand in der Dunkelheit meine Lippen mit den seinen und fing an, mich zu küssen. Gierig, kein Einwände duldend, drückte er meine Zähne mit der fordernden Zunge auf. Das Herz fiel in die Fersen, im Bauch schreckten „Schmetterlinge“ hoch. Ich mochte es, ihm zu gehorchen. Die Zeit blieb stehen. Das war, zweifelsohne, der aufregendste Moment unserer Beziehung. Das Licht wurde angeschlatet, der Auftritt begann, aber wir kamen nicht von einander los. „Adolf Hitler“ konnte warten.
Später erfuhren wir, dass man durch das Abschalten der Eliktrizität versucht hatte, das Konzert der Musikgruppe zu verhindern.
Ende Mai kündigte sich bei unseren Nachbarn ihr Cousin Maxim aus Kiev für die Uiversitätsbewerbung an. Der Junge war außerordentlich hübsch: hochgewachsen, mit kurzgeschnittenem, schwarzem Haar und dunklen Augen. Zuerst bat er mich, ihm die Stadt zu zeigen, dann ihn in die Uni zu begleiten, zumal er sich noch nicht auskannte. Goworkov und ich hörten auf, uns jeden Tag zu treffen, weil ich schlicht keine Zeit hatte. Ich wollte nicht, dass Goschka etwas von Max erfuhr. Deswegen fand ich, wenn er anrief um seinen nächsten Besuch anzukündigen, einen Haufen Gründe, diesen zu verschieben. Ich begann zu lügen.
Einmal kam er ohne Anruf spätabends mit rot angelaufenen Augen.
„Hab ein Gedicht geschrieben. Für dich. Lies es dir später durch, ja?“
Egor ging, nachdem er eilig einen Tee ausgetrunken und über Belangloses geplaudert hatte. Ich öffnete das mehrmals gefaltete Blatt, das aus einem Schulheft gerissen worden ist, zerdrückter Zigarettenasche bröselte heraus.

Du bist sicher im Leben? Scheinbar ja.
Du bist zufrieden? Doch das nehme ich dir nicht ab.
Ich weiß nicht, was morgen mit dir geschieht,
dieses Leben schreitet voran als ein seltsames Spiel.
Du verlierst, doch du miemst, als hättest du etwas gefunden.
Du gehst für die Zeit einer fremden Wärme,
und am Morgen kommst du wieder zurück,
diese Regeln sind so erbarmungslos einfach.
Du willst nicht, doch du siehst das, was um dich nicht herum ist.
Du hörst den Donner nicht, wenn du die Tür einem Klopfenden öffnest.
Du verabscheust Unbekannte nicht und die Eigenen sind dir fremd,
du vertrauest nach Gewohnheit weder den einen noch den anderen.
Du überredest dich - doch du weißt selbst – zu Falschem.
Du weißt nicht, wofür und was danach kommt.
Und du machst dich jedes Mal auf, um zu gehen,
doch deine Natur duldet keine Leere in dir.
Du könntest von dir selbst und den Freunden ermüden,
doch irgendwie hast du immer Glück mit den richtigen Leuten.
Eine unverständliche Laune dieses seltsamen Spiels,
die einen Weg bedeutet, doch ob hinauf oder herab-
Du bist ruhig, doch nur in vollkommener Enge,
in der Dunkelheit, wo auch immer, Hauptsache: hoch auf.
Für dich kann es keinen anderen Weg geben,
als ohne Recht auf Ausruhen immerzu laufen und laufen.
Du bist sicher im Leben? Scheinbar ja.
Du bist zufrieden? Das nehme ich dir nicht ab.
Ich weiß nicht, was morgen mit dir geschieht,
dieses Leben schreitet voran als ein seltsames Spiel.

Goworkov verschwand. Genauso zielstrebig, plötzlich und ohne nach Erlaubnis zu fragen, wie er in mein Leben hereingestürmt war. Nur mein Vater erinnerte sich regelmäßig an den sprechenden Vogel, der so klug und spitzfindig war wie nur kein anderen.   

6.
Trotz dem, dass meine Noten im Zeugnis der Hochschulreife für mich mittelmäßig  ausfielen, bestand ich die Bewerbungsprüfungen mit Erfolg und immatrikulierte mich im NETI. Das Studentenleben nimmt immer den ganzen Kopf ein, vor allem in den ersten Jahren. Ich bildete keine Ausnahme. Das Institut bestand aus sechs großen Lehrgebäuden, die durch angebaute Flure verbunden wurden. Wen ich nicht alles dort getroffen hatte: Freunde meines Bruders, ehmalige Schulkammeraden, Bekannte von verschiedenen Partys. Goworkov war nicht darunter. Wenn uns davor irgendwelche himmlischen Kräfte auf jedem Schritt in den zufälligsten Orten in einander laufen ließen, so wurden nun unsere Lebenslinien zu zwei Paralellen, die sich bekanntlich nie kreuzen, selbst wenn sie ganz nah beeinander verlaufen. Manchmal fanden unsere Vorlesungen zur Elektronik in dem Auditorium des ersten Blocks statt, gleich gegenüber dem Raum, wo die Redaktion von „Energia“ residierte, in der Goschka arbeitete. Ich beobachtete jedes Mal mit anhaltendem Herzen, wie die Tür zur Redaktion sich öffnete und irgendein in Rauchschwaden gehüllter Menschen auftauchte. Aber das war er nicht. Die neue Umgebung, die neuen Bekannte, die Notwendigkeit, etwas für das Studium zu tun und nicht zu faulenzen, wie ich es von der Schule gewohnt war, zwangen mich Egor zu vergessen. Oder zumindest, nicht mehr so oft an ihn zu denken. Ich studierte, verliebte mich, wurde enttäuscht, studierte und verliebte mich erneut, der Kreis riss nicht ein. Die Zeit jagte unbemerkt voran.
Manche Fächer fielen mir nicht so leicht wie Mathematik und Physik, dann hieß es für mich, zu Hause hocken und sich durch das Granit der Wissenschaft durchbeißen. Besonders schwer war der Zugang zur Darstellenden Geometrie am Ende des Semesters. Ich verstand nichts von großen Zeichnungen und war schon beim Anblick der riesigen Papierrollen wie gelähmt. Die Dozentin strich mit sadistischer Genugtuung alles rot an und zwang, die Arbeiten immer und immer wieder neu anzufertigen. Bis zum letzten Abgabetermin, zu dem man um jeden Preis eine annehmbare Fassung der Skizzen mitbringen musste, blieben zwei Tage. Ich verzweifelte. Aus der Uni rausfliegen zwinkerte mich nicht gerade an, erst recht nicht zum Neuen Jahr. Als ich die Treppen mit den verhassten, in Zeitung eingerollten Papierschichten unter dem Arm hinunterstieg, war ich den Tränen nahe.
„Wer kaut denn da auf Rotz rum?“
Ich traute meinen Ohren nicht. Goworkov stand an meiner Seite und grinste. Alles an ihm war vertraut und angenehm, seine verspielten Augen, das spöttische Schmunzeln, der leichte Pulli, wie immr auf nackte Haut übergezogen, und das Lieblingsjacket.
„Na, sollen wir vielleicht eine rauchen?“
Das Gesundheitsministerium der Russischen Föderation warnte über die Schäden des Rauchens ihn offensichtlich nicht. Die Einladung galt wie üblich allein seiner Person, wahrscheinlich bereitete es ihm Spaß, meinen kindlichen Organismus mit seinem Zigarettenrauch zu vergiften. Ich schluchzte fast los, ob vor Mitleid mit mir selbst oder vor Freude, seine ruhigen, selbstsicheren, lieben Augen wiederzusehen. Auf Goschka machte mein Leid keinen Eindruck.
„Ich hab jetzt zu tun, aber abends komm ich vorbei. Alles wird gut. Hab ich dich je angelogen? Back einfach schon mal Kekse vor.“
Egor hob mein Kinn hoch. Mir wurde komisch zu Mute, unsere Augen waren sich ganz nah. Ich weiß nicht, wie lange wir auf diese Weise einander angestarrt haben. Eine Minute, zwei, vielleicht fünf? Aber da zog Goworkov seine Hand weg, als ob ihm plötzlich seine unaufschiebbaren Tätigkeiten eingefallen wären, und rannte weiter die Treppe hinunter, ohne sich zu verabschieden.
Zu Hause las ich im Lehrbuch für die Kritzeleien im Versuch, bei meinen Fehlern durchzublicken. Die Konzentration fehlte, alle Gedanken weilten bei Goga. Unser flüchtiges Zusammentreffen erschien schon als eine Halluzination, die Frucht meiner vom Lernen erschöpften Vorstellung.
Egor kam am Abend, hungrig wie immer. Erbsensuppe und Kohlrouladen gab es zum Glück nicht, wir musste uns mit belegten Broten zufrieden geben. Keine Zeit für leere Gespräche lassend, knüpfte sich Goschka sofort meine Zeichnungen vor. Aber Goworkov wäre kein Goworkov – mit geschlossenem Mund herumsitzen, ohne zu sticheln, zählte nicht zu seinen Fähigkeiten. Vielleicht inspirierte meine Anwesenheit ihn zu solchem Wortdurchfall? Ich weiß es nicht. Die Gewissheit meines Sieges über die Darstellende Geometrie schimmerte nicht mehr als ein verbleichender Stern durch Wolkenwände durch. Er strahlte hell auf klarem Himmel. Ich wusste: Wir kämpfen uns schon durch.
Bei Goschka hatte sich nichts verändert. Er beendete sein Studium, lernte viel, arbeitete. Über das persönliche Leben schwiegen wir uns beide aus. Egor hatte auf blankem Papier von Neuem angefangen und zeichnete mehrere Stunden lang. 
„Kannst du mir Kaffee machen? Ich schlaf gleich ein. Du weißt schon: Frauen, Partys. Laugen den Organismus komplett aus, könnt’ man glatt dran sterben.“
Damit der ausgelaugte Goschka am Leben blieb, schleppte ich mich in die Küche. Kaffee war damals rar. Vater bewahrte irgendwo eine Metallbüchse voll mit einem auflösbaren, indischen, sauren Pulver auf, das er über etliche krumme Ecken aufgetrieben hatte. Die Büchse war ihm so wertvoll, dass er fast mit ihr in der Umarmung schlief. In der Küche stand für den öffentlichen Gebrauch ein kleiner Kartonbeutel des Kaffeegetränks „Narodnyj“ mit Zichorie. Dieses Zeug Kaffee zu nennen, das brachte nicht mal sein Hersteller übers Herz. Ich schüttete ein paar Löffel in eine große Tasse, goß aufgekochtes Wassen rein, rührte es um, doch die Mischung aus einer unbekannten Substanz mit dem darin schwappenden Zichorie wirkte nicht appetitsfördernd.
„Was ist das für ein Sud?“, Goschka beäugte misstrauisch die Tasse.
„Du wolltest Kaffee, also hab ich dir Kaffee gemacht. Wenn du’s nicht willst, kannst du es ausgießen“, gab ich beleidigt zurück.
Goschka verzichtete auf eine Erwiderung, woraus ich den Schluss zog, wie toll ich doch sei, dass ich so guten Kaffee gekocht hätte.
Die Zeichnungen waren am frühen Morgen fertig. Egor wollte sich auf den Heimweg machen, zum Glück war das Metro schon geöffnet. Wir schlugen schweigend Wurzeln im Flur und schauten auf einander. Ohne sich für ein nächstes Treffen zu verabreden, wie in unserem letzten Leben. Vielleicht hatte er von meiner Seite den ersten Schritt erwartet? Mir steckten die Worte meiner Oma im Kopf fest, eingefräst ins Bewusstsein seit der Kindheit: „Wenn ein Mann dich will, wird er dich umwerben, wenn nicht – lass ihn los. Dann soll er weggehen.“
„Langer Abschied – unnötige Tränen“, Goworkov gab mir einen Schmatzer auf die Wange. „Viel Erfolg.“
Ich hasste mich für mein Schweigen und wusste genau, dass ich wieder eine Chance verpasst hatte.
Einen Tag später hätte ich fast die Zeichnungen abgegeben, in denen immer noch ein paar kleine Patzer waren, doch weil ich die Dozentin so überrascht hatte, bekam ich eine Woche Aufschub, um die Korrekturen einzuarbeiten, und die Zulassung für die Prüfungen.

7.
Im Land herrschte Unruhe. Die Bevölkerung murrte, das Wertmarkensystem hing allen zum Hals heraus. Meine Mutter brachte als Oberhaupt unseres Hausblocks aus der Wohnungswirtschaft Scheine für Zucker, Alkohol, Tabak, Wurst und sogar für Seife mit. Wir teilten sie auf und gaben sie gegen Unterschrift an unsere Nachbarn weiter. Mein Vater litt am Tabakmangel - den Belomor, an er gewohnt war, aufzustöbern war schwer und teuer. Die Marken für Wodka wurden als Währung ausgetauscht und galten als absolut liquide Ware, deren Wert besonders vor irgendwelchen Feiertagen in die Höhe schoss.
Aber es gab auch gute Momente. Zeitgleich passierte in unserer Stadt ein neuer Durchbruch im Musikgeschäft. Im städtischen Radio strahlte man abends Jazz aus, zwar nicht jeden Tag, aber es war toll, zumindest machmal den lieb gewonnenen Melodien und Improvisationen zu lauschen. Beim Radiosender arbeitete Michail, der in der Nachbarschaft in unserem Haus wohnte. Mit Mischka kannten wir uns schon länger, uns vereinte das Interesse für Musik und Badminton. Im Hof waren wir, glaube ich, die Meister im Zerschreddern des Federballs. Er beendet das Konservatorium, spielte Schlagzeug in einer Band mit genauso jungen und talentierten Leuten. Man könnte nicht sagen, dass sie Volksidole waren, doch etwa ein Mal im Monat fanden ihre Konzerte statt, die alle bestens aufgenommen wurden. Mischkas Schlagzeugerkarriere strebte aufwärts. Und einmal verkündete Micha während der Proben, er mache sich nach Israel auf. Für immer. Ich konnte nicht verstehen, warum. Ich sah mich nicht als Patriotin der Sowjetunion , doch ich konnte mir mein Leben nur im heimischen Hof in meinem Bekanntenkreis, den ich – wie es mir schien – seit meiner Geburt kannte, vorstellen; in der Uni, wo es so viel Spannendes gab; auf dem Roten Prospekt, den junge Paare desabends umarmt entlangstreunten. Mischkas Leben verlief hier auf eingefahrenem Geleise. Auf ihn wartete eine erfolgreiche Zukunft.
Vielleicht war alles nicht so märchenhaft, wie es mir schien? Aber das Leben war gut, und gutes Leben ist, wie alle selbstverständlich wissen, noch besser. Mein Vater erzählte, ein Kollege von ihm gehe nach Deutschland, ebenso verließen die musizierenden Bekannten meiner Mutter das Land. Es begann die erste Migrationswelle. Die Neuigkeit darüber, dass jemand ausreiste, klang nur noch halb so seltsam. Wir hatte keine Gelegenheit und im Übrigen auch keinen Wunsch, wegzufahren. Wir durchlebten mit dem Land zusammen nicht die dunkelsten, aber auch nicht seine hellsten Stunden. Man erfreute sich an Kleinigkeiten und fand die Zeit und den Ort für Feiertage.
Ich studierte. In meinem Leben hatte sich kaum etwas verändert. Mir gefiel es, Studentin zu sein, die Kommunikation mit interessanten Menschen bereitete mir Spaß. Kann es überhaupt in der Jugend irgendetwas Schlechtes geben? Schließlich hat man das ganze Leben noch vor sich!
Im Mai organisierten unsere Institutshäuptlinge einen dreitägigen Studententreff in Dubrowino. Für dieses Ereignis wurde sogar ein Motorschiff gemietet mit einer kleinen Anzahl an Kajuten der Extraklasse, in denen unsere NETI-Elite zum Treffpunkt ankommen sollte, wie es heißt, mit Tanz und Gesang. Einfache Studenten, solche wie ich, hatten die Wahl, durch eigenen Antrieb zu Fuß mit Zelten, Kesseln und sonstigen Wanderutensilien dorthin zu gelangen oder sich einen Platz an der Sonne zu ergattern, auf dem Deck dieses riesigen Waschtrogs. Ich hatte mehr Glück als sonstige Sterbliche. Mein Freund hatte irgendwo Fahrkarten ausfindig gemacht. Wir teilten uns eine Kajute mit einem anderen Paar, einen einengenden Raum mit vier unbequemen Liegeplätzen,. Unsere Sachen verstaut in der vorübergehenden Schlafstätte, genossen ich und mein derzeitiger Verehrer die grelle Frühlingssonne, die farbenprächtigen Landschaften der Flussufer und die Wellen, die unser langsam dahintreibender Kahn durchschnitt. Das Wetter in Sibirien ist schwer vorherzusagen, insbesondere im Frühling. Doch wir hatten die richtigen Tage erwischt. Manche nutzten den seltenen Moment und sonnten sich auf dem Oberdeck. Ich hatte meinen Badeanzug nicht mitgenommen, deswegen streckte ich nur mein vom Winter noch ganz bleiches Gesicht der Sonne entgegen und freute mich über ihre Wärme.
Auf dem Schiffsbug hing eine geckenhafte Truppe herum, auf die wegen ihrer Heiterkeit alle aufmerksam wurden. Ich vernahm Gitarrenmusik und die Stimme von Goworkov. Mich überraschte das nicht. „Natürlich, ohne ihn geht ja gar nichts“, dachte ich mir, und es war nicht zynisch gemeint. Goschka gab wie immer den hiesigen Clowns, der die Elite bei Laune hielt. Als er sich von der Gitarre losriss, trat er zu einer eindrucksvollen jungen Dame. Sie war hochgewachsen, auf High Heels, in modischen Ballonhosen. Sie unterschied sich stark von anderen Anwesenden. Alle waren irgendwie gammelig angekleidet, in Unterhemden, Shorts und Jeans, und da kam so eine schicke Schnitte daher. Die Schöne umarmend, gurgelte Egor ihr etwas ins Ohr. Sie kicherte dankbar. Ich spürte einen brennenden Stich der Eifersucht und machte mich auf die Suche nach meinem Freund. Goschka hatte mich nicht gesehen.
  Als wir am Ufer bei unserem Treffpunkt andockten, brodelte dort das Leben wie in einem Ameisenhaus. Man hämmerte und baute Zelte, man entfachte Feuerstellen, irgendwo wurde schon gesungen und Grillfleisch gegessen. Platz gab es genug, alle schwärmte in Grüppchen aus, es entstand eine große Zeltsiedlung. Ein paar Stunden später, als alle sich eingerichtet hatten, riefen die Organisatoren zu einer Versammlung auf. Sogar hier war ein Programm mit Wettbewerben und Unterhaltung vorgesehen.
Mich zog jemand am Arm. Ich wand mich um und erblickte Goworkov. Unsere Augen trafen sich und ich errötete.
„Lust auf einen Spaziergang?“, fragte er schlicht, als hätte wir uns erst am letzten Abend gesehen.
„Goscha, ich bin hier nicht allein.“
„Habs gesehen. Ich bin auch in Begleitung, na und?“, Goworkov zuckte mit den Schultern.
„Uhu, wie in den Wald gehen, ohne Wachmannschaft? Die Begleitung ist ja nach dem neusten Stand der Technik ausgerüstet! So ’ne Mauser, und eine Kalaschnikov, ein paar Granaten, was empfiehlt man da noch so beim Rückzug?“ Der Ostap war nicht mehr zu halten.
Goschka brach in wieherndes Gelächter aus.
„Da sind ja Pferde ruhiger“, regte ich mich auf.
„Was sind wir nur spitzzüngig geworden!“, Goga unterhielt sich prächtig.
„Ich hatte talentierte Lehrer“, stichelte ich.
„Wer hätte auch an deinen Fähigkeiten gezweifelt?“, Goworkov griff Frieden stiftend nach meiner Hand. „Gehen wir?“
Wir schlenderten von der Menschenmasse weg. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Goschka, wie es schien, auch nicht. Zumindest fühlte ich seine Verwirrung wie früher, als ich deutlich die kleinsten Veränderungen der Goworkovlaunen unterscheiden konnte. Egor warf seine Jacke auf das Grass. Wir setzten uns. Die Sonne wärmte zärtlich.
„Schau dir mal den Himmel an. Erinnerst du dich noch?“, Goschka hob den Kopf in die Höhe.
Seit der Kindheit fand ich großen Gefallen daran, die Wolken zu beobachten und in ihnen nach verschiedenen lustigen Figuren zu suchen, nach Elefanten, vielleicht nach einem Zwerg mit finsterer Miene, einer Gießkanne, einem Bären, nach allem Möglichen. Einmal hatte ich Egor davon erzählt. Er schloss das Spiel ins Herz und wir zeigten einander oft, was wir in den grauen Wölbungen entdeckten. Die Erde war warm, wenn auch noch nicht ganz durchgewärmt. Wir lagen und schauten auf den Himmel. Ein schriller blauer Himmel mit vereinzelten Wolkenschäfchen. Hohe Bäume. Junge, vom Staub noch unbefleckte, erste grüne Blätter auf den Birken. Unfassbare Augenweide. Der Lärm und das Gelächter aus der Ferne schien unwirklich. Egor rollte sich auf die Seite und lehnte sich auf den Ellbogen ab.
„Wächst dir endlich ein Schnurrbart?“ Ich fühlte mich unwohl unter seinem starren Blick und versuchte alles zu einem Scherz herunterzuspielen.
„Du fehlst mir“, sagte er ernst.
„Dummkopf!“ Ich sprang auf und lief fort. Egor rief mich nicht zurück.
Ich weiß nicht, was mich dazu getrieben hatte. Vielleicht Angst davor, ihm Glaube zu schenken. Oder Angst vor Verlust?
Unglücklicherweise wurde ich an diesem Tag von einer Zecke gebissen. Man bemerkte es erst am Abend, als sie sich schon festgebissen hatte. Also musste ich Bekannte bitten, mich mit dem Auto in die Stadt ins Krankenhaus zu bringen. Goschka sah ich natürlich nicht mehr.

8.
Sommer! Welche Assoziationen kommen auf? Die Saison von Urlaub und Ferien, Meer und Sonne, von Shorts und Miniröcken, man muss sich nirgends sputen, kann Tage und Nächte durchpennen und sich an allen sonstigen Lebensfreuden erfreuen. Drei Monate Glück für Schüler, ein bißchen weniger für Studenten. Hast Du auch auf den ersten September gewartet, wie ich auf den Feiertag gewartet habe? Alle wiederzusehen, die letzten Neuigkeiten, Lästereien. Am Augustende ging das Faulenzen einem auf die Nerven, sodass wir mit meinen Freundinnen die Tage bis zum Lehrjahr abzählten.
Das zweite Unijahr begann ungewöhnlich. Ich flitzte, wie immer mit voraussichtlicher Verspätung, zur ersten Vorlesung. Flog in den letzten Minuten in den Vorlesungssaal, sah nur unbekannte Gesichter und lief verwirrt wieder hinaus. Ich hatte wohl etwas vertauscht. Also schleppte ich mich durch den ganzen Campus zu den Kursaushängen. Nein, ich hatte richtig geschaut, nichts vergessen und Verstand und Gedächtnis waren nüchtern. Ging wieder zurück, natürlich verspätet. Es gab so viele Neue, dass die Leute aus meinem Jahrgang einfach in der Menge untergingen. Das ganze riesige Auditorium war voll.
 Im Jahr 1989 wurde die Abschaffung der Wehrpflicht für Studenten im Grundstudium in Hochschulen bekanntgegeben. Diese „Amnestie“, wie wir es nannte, stellte eine regelrechte Katastrophe für Studiengänge dar, in denen hauptsächlich Jungs studierten. Man sollte noch hinzufügen, dass aus der Armee alle zurückkehrten, die ein halbes Jahr, anderthalb und zwei Jahre dort waren, man zwängte sie in einen Jahrgang, während die Gleichaltrigen selbstverständlich nicht abberufen wurden. Man ließ alle in einem Schwall die Lehrsäale überschwemmen. Da in unserer Fakultät in einer Lehrgruppe generell höchstens zwei bis drei Mädchen studierten, sprengte dieser Überschuss alle Kapazitäten. Wir konnten noch von Glück reden, dass nach den ersten zwei Semestern ein Drittel der Studierenden sich mit den Anforderungen in der Hohen Mathematik nicht zurecht fand und von der Uni flog. Aber die Situation rettete es trotzdem nicht. Wir saßen zu viert an einer Sitzbank in den Übungen, die Lehrenden wüteten. Man verkündete uns als Ultimatum, zum Ende des Semester würden von 250 Studierenden im Jahrgang höchstens 120 übrig bleiben („ohne Ausnahmen für irgendwelche Faulpelze!“). Ich dachte mir dreist so etwas wie: „Ach, werd’ schon durchkommen, meine Hütte steht unbeteiligt am Rand.“ Ich war zwar nicht die Klügste, aber durch das Erhalten des erhöhten Stipendiums glaubte ich mich von einem Rauswurf sicher.
Paradox – zuerst sehnt man sich nach der Vorlesungszeit, wie eine Nachtigall nach dem Sommer, nach zwei-drei Wochen wird der Unialltag zur Routine und nach ein paar Monaten kann man die nächsten Ferien nicht mehr erwarten. Man beginnt verpflichtende Übungen zu schwänzen, mit der naiven Überzeugung, dass man ja alles nachholen wird, wenn die Zeit da sein wird. Früh morgens wird das Kissen zum Allerliebsten in der Umgebung, die Trennung davon scheint dem Tod gleich.  Kurzum, an Stelle des Arbeitsenthusiasmus erwacht fortwehrende Faulheit. Selbstverständlich hinkt man hinterher, der Stoff ist kaum noch nachzuarbeiten. Die Lehrenden gründen gegen dich schon eine Koalition und bauen Pläne und tüfteln Strategien des Angriffs aus. Und da ein Krieger allein auf dem weiten Feld keinen Krieg macht, ergibt es sich, dass solche paranoidalen Gedanken die Mehrzahl der Studenten zum Prüfungsbeginn hegen. Wohin man auch schaut, überall sind Verschwörungen. Auf unserer Fakultät rannten mehr als 200 solcher Paranoiker herum. Je näher die Klausuren rückten, desto schrecklicher wurden die Zukunftsvisionen. Zum ersten Mal kündigte das Neue Jahr nichts Gutes an.
Zu meinem Erstaunen wurde ich knapp, aber dennoch, zur Prüfungsphase zugelassen. Die erste Klausur in Metrologie konnte nur eine Hohlnuss nicht bestehen, diesen Eindruck erweckten fielen die Aufgaben der vorhergehenden Jahres. Wir legten bei den Vorbereitungen den Schongang ein, uns nicht mit Hohlnüssen identifizierend. Nataschka, inzwischen Busenfreundin und Mitkommilitonin aus der Lehrgruppe, und ich beschlossen die Nacht vor der Klausur im Wohnheim zu verbringen, um gemeinschaftlich Spicker anzufertigen, die die versäumten Vorlesungen abdeckten. Um zwei Uhr nachts ließ unsere Lehraktivität langsam nach, wir tranken eine deutliche Überdosis an Kaffee, die Aktivität kehrte zurück, allerdings ging sie nicht in die Richtung, in die man sie sich gewünscht hätte.
„Wie wär’s mit Schlittschulaufen?“, platzte unser Bekannter Schurik ohne nachzudenken heraus.
Auf dem Campus hatte man kürzlich ein wunderbare Eisbahn gebaut. Saschka brauchte sich keinen Kopf zu machen, er war nicht zu den Prüfungen zugelassen und Metrologie drohte ihm nicht.
„Aha. Heureka!“ Natka gähnte. „Obwohl – warum auch nicht? Wir werden sowieso nicht einschlafen, so tun wir zumindest was für die Gesundheit.“
 „Aber wir haben doch keine Schlittschuhe!“, erwiderte ich widerwillig. „Und überhaupt – was redet ihr für ’n Quatsch?“
„Ist doch keine Frage! Wer suchet, der findet! Es schläft ja keiner. Alle sind fleißig, sitzen da und büffeln.“ Schurik verschwand.
Nach zehn Minuten kehrte er mit zwei Paaren Schlittschuhen für Hockey in der passenden Größe zurück.
„Ich hab uns sogar Gesellschaft für die Eisbahn aufgetrieben“, prahlte er.
Das Eis war erst neulich geglättet worden, die Nacht war sternenklar und ruhig. Schon bald schwitzten wir trotz der minus zwanzig Grad. Wir lachten, drehten mehr und weniger gelungene Pirouetten, blödelten herum, veranstalteten Fangspiele. So vergingen noch ein paar Stunden im Flug.
„Zeit für die Heia.“ Schurik schlug den Heimweg an.
Natka und ich schafften es nicht, in dem uns zugeteilten dünnen, metallernem, bis zum Boden durchgebogenem Bett einzuschlafen. Am Morgen kam das Bereuen über die sinnlos verlebten paar Tage vor der Prüfung, aber wir hätten nichts verändern können, hätten wir es uns noch so stark gewünscht. Wir warfen uns die Normalportion Baldriantabletten, fünf pro Mund, ein (Nataschka schleppte das ekelhafte Zeug bei Prüfungen immer mit, für alle Fälle), das Leben nahm die gewohnte Regenbogenfärbung an. Wir stellten uns als erste an, Metrologie abprüfen zu lassen. Aus dem einfachen Grund, dass wir schnellstmöglich schlafen gehen wollten. Nicht schwer zu erraten,  dass wir die Liste der Hohlnüsse  für das kommende Jahrzehnt eröffneten, indem wir es fertigbrachten, in einer dermaßen einfachen Klausur durchzufallen. Wegen dem aufgegessenem Baldrian sahen wir darin keinen Anlass zum Trauern, nur ein bißchen vielleicht. Müde, aber mit ruhigem Geist fuhren Natka und ich nach Hause.
Sport hatte nie auf mich eine gesundheitsstärkende Wirkung, wie etwa bei Nataschka. Ein paar Tage später, am Vorabend des nächsten Prüfungstages landete ich im Bett mit 40 Grad Fieber. Bronchitis. Die Prognose des regionalen Therapeuts spendete wenig Trost: Bettregime, mindestens für eine Woche. Der Hauptteil der Prüfungsphase ging an mir vorbei.
Immer noch krank, mit nicht versiegem Schleim und Husten, ging ich ins Dekanat, um das Nachholen zweier Prüfungen zu besprechen, die ich attestiert verpasst hatte. Auf der Höhe der Energia-Redaktion stieß ich mit Goschka zusammen, der den Clubraum in Rauchschwaden eingehüllt verließ. Wie oft hatte ich diese sich öffnende Tür betrachtet mit Angst und gleichzeitigem Wunsch, Goworkov wiederzusehen, und es war nichts passiert, und dann passierte es ausgerechnet an diesem Tag, im unpassendste Moment wegen meinem miserablen Gesundheitszustand.
„Wow, wen haben wir denn da? Was watschelst du denn so? Na, du siehst vielleicht aus!“ Goga freute sich, mir zu begegnen.
„Du bist auch kein Blumenkorb“, erwiderte ich. Wahrlich, was für ein ungünstiges Zusammentreffen!
Nachdem ich ihm meine Situation geschildert hatte, setzte ich meinen Weg fort. Egor bot an, mich zu begleiten. Nichts deutete auf schlechte Nachrichten hin. Ich zeigte mein Krankheitsattest vor und bat um die Nachholerlaubnis für die Klausuren. Die Sekretärin konnte trotz langer Suche meinen Namen nirgends finden.
„Vielleicht sind Sie schon in den Listen der Exmatrikulierten?“, verkündete sie.
„Wie denn das? Ich war doch krank?“ Ich verschluckte mich fast bei so einer wilden Mutmaßung.
Goschka zog mich am Ärmel. An der Tür des Dekanats hingen die Schwarzen Liste derjenigen aus, die von der Uni geflogen waren. Wir fanden ohen lang zu suchen auch mich darin.
„Ich ahnte, dass so etwas kommen könnte. Momentan geht es in ganz NETI so zu“, versuchte mich Goschka zu trösten.
Mir fiel überhaupt nicht ein, was ich tun könnte. Egor klopfte beim Dekanat an und kam nach einem kurzen Gespräch mit sauerer Miene wieder heraus.
„Der Dekan meint, es wär zu spät. Hättest du nicht anrufen können?“
Man muss bekanntlich erstmal ein Unglück verarbeiten, und erst dann nach Rückzugmöglichkeiten Ausschau halten. Mein Verstand kapitulierte. Ich fürchtete mich vor dem elterlichen Zorn.
„Hey, Kopf hoch! Es wird alles gut!“ Die Aufmunterungsversuche des sprechenden Vogels schlugen fehl.
„Streng dich nicht an.“ Ich heulte los.
Goschka fuhr mit mir nach Hause und nahm den ersten emotionalen Schlag meines Vaters auf sich, als dieser von meinem Rauswurf erfuhr. Nachdem er sich ausgeschrieen hatte, beruhigte er sich und sagte, dass es in seinem Haus keine Nutznießer geben wird, also solle ich entweder studieren oder arbeiten. Goworkov versprach, mir bei den Arbeitssuche zu helfen. Einen guten Job fand man nur durch weitreichende Beziehungen. Wir fanden eine Sekretärstelle für mich, in einem der NII auf meinem geliebten Roten Prospekt in der Nähe unseres Hauses. Und für mich fing zum ersten Mal der Arbeitsalltag an.
Interessanterweise stieß das Schicksal Goworkov und mich Stirn an Stirn an einander in den Momenten, die meistens von mir größere Verantwortung forderten. Ob es irgendwelche höheren Zeichen waren? Das weiß ich nicht. Doch jeder von uns setzte sein Leben unabhängig vom anderen fort.
Zum Jahresende hatte man aus der Fakultät tatsächlich über 100 Studierende exmatrikuliert. Die Schlausten hatte im Voraus akademischen Urlaubssemster beantragt, verloren dadurch zwar ein Lehrjahr, aber nicht den Studiumplatz.

9.
Das Wort „Perestroika“ war schon in aller Munde. Es sprossen Filme aus dem Boden, die wahrheitsgemäß das dokumentierten, was hinter der Oberfläche des Jugendlebens und des Polizeibetriebs geschah. Die Schwarzhändler versteckten sich nicht mehr in den Ecken, sondern warben vor den zentralen Kaufhäusern mit ihrem Flunder. Das einzige, was man ihnen anhaben konnte, war mit ihnen zu reden und sie gehen zu lassen. Der Komsomol wurde abgeschaffen. Das bedeutete, dass das Land an einem Wendepunkt angekommen war. Die auf den Bildschirmen flimmernde Filme schockierten. Die Kinos waren vollgepfercht. Alle wollten „Die kleine Vera“ und „Man nennt mich Harlekin“ sehen. Die Grausamkeit und gleichzeitige Hilflosigkeit der Jugendlichen aus sozialen Brennpunkten und zerrütteten Familien entmutigte. Es fiel immer schwieriger, sich in seiner Nussschale einer ausgedacht stabilen Welt zu verschanzen. Aber sich sputen in Richtung der Veränderungen, wollte auch keiner, weil niemand wusste, wie. Über die Korruption und die Ungerechtigkeiten schrie man sich an jeder Straßenecke die Hälse wund, wohl in der Vermutung, dass sich dadurch etwas schon tun wird. Doch die ersehnten Umwälzungen ließen auf sich warten. Das einzige, was vorfiel, war die Gärung der Gehirne und die Stimmung, das alles erlaubt sei. Im Jahr 1990 kam Goworuhins Dokumentarfilm „So darf man nicht leben“ auf die Leinwand. Die Haare standen einem zu Berge von den Fakten, die er darin dem Publikum vorführte. Die Kriminalitätsrate war ums Vielfache gestiegen, doch für Vergewaltigung und Mord wurden höchstens fünf Jahre Gefängnistrafe verhängt. Ein Mitbürger konnte mitten auf der Straße am helllichten Tag zu Tode verprügelt werden, die Gleichgültigkeit wurde zur Norm. Das Anstehen in den scheußlichen Schlangen für eine Flasche Wodka mit Schlägereien und abgerissenen Knöpfen kannte jeder, der die Mittel hatte, Wertmarken für Alkohol zu kaufen. Prostitution, Schwarzmarkt, Einbrüche, Morde, Bestechungsgelder – ein Ausschnitt aus der Liste der Dinge, die uns auf der Leinwand gezeigt wurden.
Als ob das nicht genug wäre, herrschte in Russland außerdem eine höchst unstabile wirtschaftliche Situation. Die politischen Ränge zerbröckelten. Die kommunistischen Partei konnte die Gesellschaft nicht mehr so stark beeinflussen wie zuvor. Man munkelte von Reformen und Geldwechsel, doch keiner wusste so recht, wie es aussehen könnte. Viele hoben sich etwas für den schwarzen Tag auf, naiv daran glaubend, dass Blechdosen mit Nägeln in Kellergewölben, Matrazen und Briefumschläge, die an die Kehrseite von billigen Wandbildern geklebt wurden, ein sichereres Versteck als Banksafes für das Kapital waren, das man sich mit allen Kräften erspart hätte, zumal Banken sowieso keiner traute. Wir lagerten unser Geld in einer Sitzcouch, in der mein Vater saubere Socken aufbewahrte. Davon wusste niemand und auch mein Vater muss es nach einiger Zeit vergessen haben.
Im Januar, eine Woche vor dem im ganzen Land schon gemunkelten Ereignis, wurde auf allen Arbeitsplätzen bekannt gegeben, dass vom 23. bis zum 25. ein Geldwechsel stattfinden wird, pro Person honnten nur 1000 Rubel gewechselt werden. Studenten wurden nicht als Personen angesehen, deswegen nahm man beim Dekanat nicht mehr als 500 Rubel pro Kopf auf. Die Schein für fünfzig und hundert Rubel sollte aus dem Gebrauch genommen und durch kleinere Banknoten ersetzt werden. Das ganz Land hing am Telefon. Alle suchte mit gemeinschaftlichem Eifer arme Verwandte, Freunde und letztlich auch einfache Bekannte, denen man sein Geld zum Wechseln einhändigen konnte. Mein Vater hielt sich in diesem Zeitraum in Jakutien auf Arbeitsreise auf. Sein abendlicher Anruf und das Geständnis, er habe im Geheimen vor der Mutter drei Tausend Rubel in Socken gehamstert, schockierte nicht nur seine Frau, sondern die gesamte Familie. Wir mussten etwas unternehmen, und zwar dringend. Sogar ich sah die Wichtigkeit der Lage ein, gut verstehend, dass bei dem elterlichen Monatsgehalt von jeweils ein Hundert Rubel das Ersparnis eine gewaltige Summe waren, die man mehrere Jahre hätte sparen müssen. Wir klingelten bei alle Bekannten durch, aber es konnte keiner aushelfen. Der 23. Januar kam. Am Morgen rief mein Vater an und wollte unbedingt mit mir sprechen, was in der Form recht selten vorkam.
„Ruf den sprechenden Vogel, er wird schon etwas wissen, bitte.“ Das erste Mal bat mich mein Vater um etwas Ernstes.
Zweifelsohne war dieser Versuch unser letztes Rettungsseil. Goschka auszumachen was ein schweres Unterfangen, aber machbar. Nachdem ich bei allen unseren gemeinsamen Vertrauten angefragt hatte, fand ich seine Telefonnummer heraus. Goga stand schon bald vor unserer Tür. Inzwischen besaß er ein japanisches Auto und führte ein selbstsändiges Unternehmen, das bergauf lief. Zumindest gingen solche Gerüchte über ihn um. Goworkov gab das Geld einem bekannten Lehrenden aus NETI und dieser verteilte es unter seinen Studenten zum Wechseln. Die Lösung fiel ziemlich simpel und richtig aus. So rettete Goschka das angehäufte Familienkapital.
Unsere Wege kreuzten sich weiterhin nicht. Ich schrieb mich wieder erfolgreich in der Universität ein und studierte. Egor arbeitete, das Geschäft nahm viel Kraft in Anspruch und er tauchte immer seltener in der ihm teuer gewordenen Energia-Redaktion im Institut auf.       

10.
„Hör mal, hast du Kaffee?“ Dimka wies darauf hin, dass es an der Zeit sei, ein schlechtes Gewissen zu kriegen, weil ich meinem Gast nichts zum Naschen anbot.
„Und ob! Ich kann ihn sogar recht gut kochen.“ Ich stiefelte in die Küche auf der Suche nach der unveränderlichen Büchse mit dem Kaffeegtränk „Narodnyj“, den mein Vater immer noch für Besucher aufbewahrte.
Wir zogen uns mit meinem Kumpel Dimka den vor Kurzem erschienenen, brennend aktuellen Film „Awarija, die Tochter eines Cops“ zu Hause rein. Der Film war lang und spannend, selbstverständlich hatten wir danach einen Kohldampf. Nach dem Aufkochen goß ich das Wasser über das im Voraus in die Tasse geschüttete Pulver, fügte Zucker hinzu und trug alles nach gutem Umrühren ins Wohnzimmer. Auf dem Teller lagen noch mehrere Butterbrote. Ich trank keinen Kaffee, sondern hatte mir einen Tee zubereitet. Dimka dreht sich nach dem Geruch um, fragte aber mit einem misstrauischen Blick auf die Tasse:
„Was ist das für ein Gesüff?“
„Und um was hattest du mich nochmal gebeten? Tee mit Sahne?“ Ich verstand nicht, was er hatte.
Dimka nahm ein paar vorsichtige Schlucke und gab mit die Tasse zurück.
„Gieß diesen Dreck aus und biete es niemandem mehr an“, fällte er das finale Urteil. 
„Also ich weiß noch, Goworkov hat es auch getrunken und hat „Danke“ gesagt und ich hatte alles genauso gemacht wie jetzt“, murrte ich beleidigt.
In Dimkas Augen las ich Zweifel an der erhaltenen Auskunft. Goworkov kannte er oberflächlich aus der Studentenbauabteilung. Er wusste auch als guter Freund über unsere alte Romanze bescheid.
„Hast du das Richtige getan, indem du diesen Menschen hast weggehen lassen?“
Ich starrte überrascht Dimka an.
Vielleicht hatte er ja Recht.

11.
Unser nächstes Wiedersehen mit Egor passierte einige Jahre später und war ziemlich kurz, dauerte vielleicht gerade mal zehn Minuten. Gequält vom ständigen Schlafmangel wegen dem kleinen Kind und dem lästig fallenden Lernen im letzten Studienjahr, bemerkte ich Goschka nicht einmal, als wir Nase an Nase zusammenstießen. Er bummelte genauso wie ich auf einem kleinen Straßenmarkt auf der Studencheskaja, auf der Suche nach den ersten Frühlingsvitaminen, die die Tadschiken aus ihren fruchtbareren Ländern mitbrachten.
„Unerwartet, aber angenehm! Hallo, wie steht’s?“ Der sprechende Vogel lächelte das Lächeln, dem ich einst nicht widerstehen konnte. Goschka hatte sich gar nicht verändert, außer dass seine Brillengläser dicker geworden waren.
„Hallo! Mein Leben ist wie immer bunt gestreift! Und bei dir?“
Goga zwinkerte mir keck zu.
„Bei mir sieht’s auch wie ein Matrosenhemd aus. Wir sind ja keine Idioten, stimmt’s?“
„Stimmt.“ Ich lachte auch. Es war ein zufälliges Treffen, über das man sich sehr freut. „Beende gerade die Schule. Und ich hab ein kleines Mädchen.“
„Ich hab auch eine Tochter.“
„Du hast ein Kind?“, fragte ich ungläubig.
„Man sagte mir, es sei meins, und ich glaube daran.“
„Du bist so ein Tölpel, Goworkov! So wie du warst, so bist du auch geblieben.“ Nach kurzem Grübeln stellte ich eine völlig dumme Frage. „Also hast du geheiratet?“
„Du bist ungewöhnlich klug und findig“, witzelte er.
Wir plauderte noch kurz über belangslose Themen und verabschiedeten uns.
„Soll ich dich mitnehmen? Ich bin mit dem Auto hier.“
„Ne, Goscha, ich fahr mit der Bahn. Das geht schneller. Also, man sieht sich!“
Ich lief fort, ohen mich umzudrehen, und fühlte am Hinterkopf seinen Blick.

12.
In den nächsten sieben Jahren meines Lebens veränderte sich viel. Wir zogen um, meine Tochter kam in die Schule. Mein Mann arbeitete in einer aufstrebenden Firma und fuhr auf Arbeitsreisen, unter anderem auch ins Ausland. An Goschka erinnerten nur die Gratulationskarten zu Silvester, die an die Adresse meiner Eltern gesendet wurden. Bis sie die Wohnung wechselten. Danach gingen die Glückwünsche zum Neuen Jahr von unserem sprechenden Vogel irgendwo verloren, in der Menge all der spurlos verschollenen Glückwünsche, die an falsche Adressen gingen.
Einmal stieß ich zufällig, als ich zu Besuch bei einem Bekannten war und sein Familienalbum durchblätterte, auf ein Foto von Goga mit Frau und Tochter. Der lächelnde Goschka umarmte eine gut aussehende Blondine mit Kurzhaarschnitt und ein Mädchen mit dickem, langem Zopf, das erstaunlich seinem Vater ähnelte, ein bildhübsches Kind. Wie klein ist doch die Welt, mich erstaunte, dass mein Gastgeber Goworkov kannte. Im Prinzip ist auch Nowosibirsk hin und wieder ein kleines Dorf. Goschka hatte nun ein gutes und erfolgreiches Geschäft am Laufen. Es hatte irgendwas mit der Lieferung von Alkohol zu tun. Er hatte eine Wohnung im Zentrum gekauft. Seine Tochter besuchte eine Schule, die auf Fremdsprachen, insbesonders auf Englisch ausgerichtet war. Trotz der Krise im Jahr 1998, als viele kleine und mittlere Firmen bankrott gingen, hielt sich Goschkas Unternehmen in Schuss, es blühte sogar auf. Ich freut mich von ganzem Herzen für ihn. Was für eine freudige Nachricht aus der Vergangenheit!
Auf einer Arbeitsreise schlugen die deutschen Kollegen meines Mannes ihm vor, dort zusammenzuarbeiten. Die Vorbereitungen dauerten nicht lang, wir machten uns auf den Weg, Europa zu erobern. Obwohl die Kenntnis der Sprache sich auf zwei aus sowjetischen Filmen gehörte Sätze beschränkte: „Hitler kaputt“ und „Hände hoch.“
Ein Jahr lang war ich nicht mehr daheim. Ich vermisste alles sehr. Manchmal schmerzte mir der Körper vor Nostalgie, so stark wollte ich die vertrauten Orte, Freunde und Verwandte wiedersehen. Endlich ergab sich eine Gelegenheit dazu. Und ich kam mit dem nächsten Flugzeug.
Das Glück der ersten Tage, die ich zurück in Russland war, überall alle Russisch sprechen zu hören, hinter jeder Ecke einem bekannten oder sogar einem nahe stehenden Mensch begegenen zu können, lässt sich nicht in Worten fassen. Wenn ihr schon mal aus einem langgezogenen Arbeitsaufethalt nach Hause gekommen seid, und vor allem aus dem Ausland, versteht ihr dieses Gefühl. Sogar das Kaffeetrinken im Lieblingscaf; wird zu einem spannenden Theaterbesuch, man genießt das bloße Beobachten. Andere Menschen, andere Verhältnisse, das leichte Flirten mit den Straßenverkäufern und Kellnern, in der Sprache, die man in den Eingeweiden seit der Geburt spürt, warum auch nicht? Seltsamerweise traf ich auf dem Roten Prospekt die Bekannte, denen ich zum Teil jahrelang nicht begegnet war, als ich sogar noch dort wohnte. Ich zog Menschen an. So als wüssten sie intuitiv, dass ich mich dort nur für kurze Zeit aufhielt.
Das Zusammentreffen auf der nächsten Lebenskreuzung geschah am dritten Tag meines Aufenthalts in Nowosibirsk. Ich fuhr mit der Rolltreppe aus der Metro hoch. Die ständige emotionale Anspannung, der Wechsel der Zeitzonen und die endlosen Gespräche mit meinen Freunden fast 24 Stunden am Tag am Telefon und in Person bewirkten schreckliche Erschöpfung an den Abenden. Als ich die Aufmerksamkeit von jemandem auf mir spürte, hob ich den Blick zur herunterfahrender Rolltreppe. Irgendein Fremder. Und plötzlich – wie ein Blitzschlag. Goworkov! Anscheinend konnte auch er seinen Augen nicht trauen. Die rennenden Rolltreppen schoben uns näher. Wir hätten uns an den Händen berühren können, wenn wir es gewollt hätten. Aber die Rolltreppen fuhren uns in unterschiedliche Richtungen. Immer noch ungläubig, stieg ich, nachdem ich oben angekommen war, wieder hinunter. Goschka stand unten und wartete auf mich. Im Hals steig ein Kloß auf, wir schwiegen.
„Hallo“, sagte Goschka mit heiserer Stimme.
„Hallo! Matrosenhemd?“
„So ähnlich. Verstehst du, ich bin eigentlich immer mit dem Auto unterwegs, aber heute habe ich mit Freunden was getrunken, wollte mit der Metro fahren, und dann kommst du.“
„Ja, wie in fantastischen Romanen! In der besten Tradition von A. und B. Strugazki?“
„Nein, du hast es nicht verstanden. Ich war wahrscheinlich seit mehreren Jahren nicht mehr in der Metro.“ Goschka starrte mich fassungslos an.
„Ist doch nicht weiter verwunderlich. Ich hab die ganze Nacht darauf hingearbeitet und die Sterne in die passende Position gebracht, für unser Treffen. Die nächtlichen Bemühungen haben sich ausgezahlt.“
Egor schmunzelte und nahm sofort meine witzelnden Ton an. Er hatte sich verändert, wirkte viel gereifter. Ein gut gekleideter, interessanter Mann. Der lange, helle Mantel stand ihm ungewöhnlich gut. Immer noch dieselben unzähmbaren, nach hinten gekämmten Haare, die schon vom Grau gesprenkelt wurden. Endlich begriff ich, was mich im ersten Moment so vewirrt hatte – das Fehlen der Brille.
„Ich hoffe, du weist einen alten Verehrer nicht ab? Ein Glas Wein?“, ließ Goworkov wie nebenbei fallen, doch ich fühlte, wie er den Atem anhielt, in der Erwartung meiner Antwort.
„Wenn du einlädst, warum nicht?“
Wir redeten ununterbrochen mehrere Stunden durch, einander ins Wort fallend, wie alte gute Freunde, die sich länger nicht mehr gesehen haben und bei denen sich eine Menge an Kleinigkeiten aufgestaut, die man dringend loswerden muss. Wir erinnerten uns an gemeinsame Gefährten. Petja war zu meinem Bedauern gestorben. Der talentierte Schlagzeuger Mischka lebte in Israel und arbeitete, so der letzte Stand, als Türhalter in einem Hotel. In einem guten, fünfsternigen Hotel, aber eben als Türhalter. Ich erzählte ihm von unseren Abenteuern in Deutschland. Er hatte nicht mitgekriegt, dass wir weggefahren sind. Wir diskutierten über alles und jeden, tauschten uns viel über unsere Kinder aus, aber umgingen eifrig das Thema der Ehegatten.
Das Restaurant schloss. Wir wurden hinausgebeten.
„Darf ich dich nach Hause begleiten?“
„Natürlich.“
Hätte es anders kommen können?, dachte ich mir.
Wir liefen über den Roten Prospekt, der in Flammen stand, von den Werbungen und Girlanden an den Boutiques und Bars. Wir fühlten beide, dass der Abschied nahte, und schwiegen, als wären uns die Themen von einem Augenblick auf den nächsten ausgegangen, freuten uns einfach nur über das gute Wetter, dieses Treffen, das so plötzlich kam und so wunderbar verlaufen ist.
Uns an den Händen haltend standen wir vor meiner Haustür.
„Weißt du noch?“ Goschka schaute auf zum sternenklaren Himmel.
„Und was wenn im Aufzug Psychopathen sind?“
„Na, dann jagen wir sie doch mal weg, oder?“
Wir klammerten uns an bedeutungslose Dinge, um den Abschied hinauszuzögern. Als ich die Wohnungstür hinter unseren Rücken zuschlug, nahm ich mir ein Herz.
„Kaffee vielleicht?“
„Womit habe ich es mir verdient? Nicht wieder das Kaffeegetränk „Narodnyj“!“
Ich lachte auf. „Nein. Ich hab guten Kaffee da. Ich koch ihn in der Mokkakanne. Man sagte mir, dass ich das ganz gut mache.“
„Schwer zu glauben. Aber man soll ja anderen Menschen auch mal vertrauen können.“
Egor strich mir mit den Fingern über die Wange, zuerst zaghaft, dann tapferer. Nahm mein Kinn, hob es an. Ich konnte nicht zurücktreten, ich stand eingepfercht an der Wohnungstür im Flur. Wir starrten uns angestrengt in die Augen, ich versuchte mich aus seinem Griff herauszuwinden, aber Goschka gab mich nicht frei.
„Ich möchte nicht sprechen“, flüsterte er dumpf. Ich verstand eher seinen Lippenbewegungen nach, was er sagen wollte.
„Dann sprich eben nicht.“
Er fing an, mich zu küssen. Die Lippen, das Gesicht, den Hals. Gierig, fordernd, mich komplett verschlingend, ohne etwas übrig zu lassen. Seine Leidenschaft ergriff mich mit einer solchen Wucht, dass uns nichts mehr von einander hätte losreißen können. Die Beine knickten unter mir ein, der Kopf drehte sich. Ich sah nichts außer ihm. Ich wollte nichts außer ihn. Die Welt hörte auf zu existieren...
Mein Kopf lag auf Goschka Schulter, ich drückte mich an ihn mit dem ganzen Körper, nicht glaubend, dass das Geschehene real war. Ich genoß den Geruch seiner Haut, den Geruch seiner Zigaretten. Ich mochte es, durch die Haare auf seiner Brust zu streichen, die gehorsamen, die krausen, die grauen, seinen Hals zu streicheln, kleine, spitze Nadeln seiner Bartstoppeln zu berühren. Ich ging auf in dem Gefühl der Nähe mit einem mir lieben Menschen.
„Weißt du, ich hätte nie gedacht, dass du mein sein wirst. Wie jetzt.“ Goschka schloss die Augen und atmete Rauchkringel aus. „Erst warst du zu klein und dann immer mit anderen zusammen.“
Ich öffnete den Mund, aber schwieg vorsorglich. Ich fürchtete mich davor, den Momemnt zu zerstören, den zerbrechliche, geistigen Einklang. Worte waren überflüssig. Ob ich es bereute? Schließlich hatten wir beide Familien. Nein, keinesfalls. Ich wusste ganz genau: So hatte es kommen müssen, und so kam es auch.
Wir wurden Geliebte nach über zehn Jahren unserer Bekanntschaft.
Wir trafen uns jeden Tag, zwei Wochen lang. Fast fünfzehn Tage! Jedes Treffen erschien als einzigartig, so als wäre es das letzte. Morgens ging Goschka zur Arbeit, ich verbrachte die Zeit in der Stadt miner Kindheit, mit vertrauten und geliebten Menschen, im Theater oder einfach nur allein auf einer Bank. Abends war ich mit Egor zusammen, bei einer Tasse Kaffee, im Restaurant, auf irgendeinem Konzert, im Bett. Ich war glücklich. Die Zeit rann unerbitterlich fort, der Tag des Rückflugs nahte.
Manchmal möchte man den Lebensverlauf an einem bestimmten Abschnitt anhalten, wir versuchen länger da zu bleiben, den Moment ins uns aufzunehmen, die Umgebung, die Geräusche, Empfindungen, damit, wenn der Uhrzeiger dann gnadenlos weitereilt, man sich so gut wie möglich die glücklichen Augenblicke einprägen und abrufen kann. Als verstaue man diese kostbaren Stückchen der Erinnerungen in einer Sparbüchse, um sie voller Vorfreude hin und wieder zu öffnen, wie ein Kleinkind, das seine geheimen Schätze in einer Kartonschachtel betrachtet: schwarze Glasscherben, durch die man hindurch auf die Sonne schauen kann, Umschlagpapier von allen Lieblingsbonbons, silvesterliche Postkarten mit Bären und Häschen, Briefmarken mit Tier- und Stadtaufdrucken, Perlen, sonstige für Erwachsene nutzlose, doch in der Kindheit sehr teure Dinge.
Ich erinnere mich an unseren letzten Abend bis in die kleinsten Details. Das trübe Wetter, den lästigen, kleinen Nieselregen, vom Regenwasser sauber gewaschene Laubblätter an den Bäumen, den niedergeschlagenen Himmel. Sonderbar, aber das Wetter schien die kleinsten Nuancen unserer Gemütslage einzufangen, die Kenntnis um die baldige Trennung. Die Koffer waren gepackt, das Geschirr gewaschen und in Schränken verstaut. Wir lagen da, voller Angst, die Umarmung zu lösen.
„Du bist noch nicht weg, aber ich vermisse dich schon.“ Das sind die rührendsten Worte, die mit je ein Mann gesagt hatte.
Wir fuhren zum Airport. Goschka war noch nie so lustig und spitzfindig, er riss andauernd Witze, erzählte unterschiedliche Anekdoten. Ich lachte bis mir Tränen die Wangen entlang rollten und ich Bauchschmerzen bekam. Er versuchte mit aller Kraft das Stechen im Hals hinunterzuwürgen.
Wir beobachteten umschlungen, wie die Koffer auf dem Sortierband eine eigenständige Reise antraten. Ich musste los.
„Das ist für dich. Öffne es, wenn du im Flugzeug bist, ja?“ Egor holte einen verschlossenen Umschlag hervor. Dem Umfang nach zu urteilen, musste es ein langer Brief sein.
„Hast du die ganze Nacht durchgeschrieben?“
„Nicht die ganze Nacht, nur die Hälfte. Hab dich beobachtet und Memoire geschrieben.“
Ich schaute auf sein Gesicht. Versuchte ich etwas Bestimmtes zu verstehen? Ich weiß nicht.
„Willst du dir vielleicht meine Telefonnummer aufschreiben?“, fragte ich mechanisch.
„Du weißt, dass ich dich in jeder Minute finden kann.“ Goschka war ernst.
„Ist das eine Drohung?“ Ich schmunzelte.
„Nimm es als solche hin... Na, langer Abschied.“
„Unnötige Tränen“, schloss ich leise ab, rieb die Nase an seiner Wange und ging, ohne mich umzusehen.
Wahrscheinlich drehte Egor sich auch sofort um und lief fort, ich habe seinen Blick nicht auf meinem Rücken gespürt. Die Atmung stockte, ein feuchter Schleier vor den Augen umhüllte die Treppen zum Wartesaal. Der Abschiedsschmerz war so stark, dass ich meinte, es wabere in der Luft um mich herum.
Die Menschen setzten sich in die Flugzeuge, legten das Handgepäck ab, wie immer leicht nervös vor dem Flug. Der Aushang „Tolmachjevo“ lugte ins Fenster, als wollte er sagen: „Tschüss, bis bald!“
„Schnallen Sie, bitte, nun die Sitzgurte an. Unser Flugzeug ist startbereit“, teilte die Stewardessstimme freundlich mit.
Ich schaute auf den Umschlag und konnte mich nicht dazu entschließen, ihn zu öffnen. Der metallerne Vogel polterte los, zuerst widerwillen, mit Gebrüll protestierend, während er an Fahrt zunahm, dann hob er von der Erde ab und schwebte in die Höhe. Das Gebäude des Airports schrumpfte, bis es sich in einen beliebigen kleinen Punkt verwandelte. Ich öffnete den Umschlag und faltete die zusammengelegten Papierblätter auseinander. Mir fielen zwei Ohrringe in den Schoß: ein Paar sehr filigraner goldener Ringe mit einem dünnen, mit Diamanten versetzten Schliff, die an einander befestigt waren. Und nicht eine einzige Schriftzeile.

13.
Zum wiederholten Mal eilte das Flugzeug, die Wolken aufbröselnd und die Schichten des blauen Himmels zerschneidend, nach Nowosibirsk. Ich wusste genau, dass ich Goworkov sehen wollte, dass ich bereit bin, ihn wiederzutreffen. Nach fünf Jahren, die wir uns nicht begegnet sind. Einige Telefonnummern unserer gemeinsamer Bekannten im Notizbuch flößten Sicherheit ein, ich dachte, dass es vielleicht nicht leicht sein wird, Egor zu finden, aber möglich.
Die Erwartung der nächsten Zusammenkunft... Die nach allen Seiten ausschwärmenden Gedanken erlaubten es mir nicht, mich auf das aufgeschlagene Buch zu konzentrieren, das ich mir für den Flug mitgenommen hatte.
Am frühen Morgen drehte ich dann endlich das etwas eingerostete Schloss um und trat nervös in meine Wohnung ein. Die sonnendurchfluteten Zimmer, die alte Möbel, die mit einer unberührten Staubschicht bedeckt war, alles wartete auf mich. Ich freute mich, als wäre ich einem lange ersehnten Menschen begegnet. Ich klingelte bei allen Freunden an, während alle noch zu Hause waren, dass alles in Ordnung und ich ohne Exzesse angekommen sei. Für den Abend verabredete ich mich wie gewohnt mit Dima, einem alten Freund. Der erste Tag ist immer sehr emotional und aufgeladen. Man muss Staub wischen, die Koffer auspacken, etwas zum Naschen besorgen, einen Kaffee im Lieblingscaf; mit Pfannekuchen trinken, einmal den Roten Prospekt hinauf- und hinunterlaufen, die Verwandten, die man so lange nicht mehr gesehen hatte, liebkosen und bei ihnen wenigstens für eine Stunde hereinschneien. Viel zu tun. Und dann Abraou-Durceau mit Dimka. Ein schon eingebürgertes Ritual.
Wir trafen uns mit Dimka am Leninplatz, als ich schon völlig kaputt war und kaum ein Bein vor das andere setzten konnte, aber mich pudelwohl fühlte. Die Zunge war ganz verknoteten vom ständigen Plaudern.
„Hallo, wie geht’s?“ Dimka gab mir einen Schmatzer auf die Wange.
„Gut. Mir hat nur das koschere Essen nicht gefallen.“
„Und seit wann?“
„Was – seit wann?“
„Seit wann isst du koscher?“
Ich kicherte.
„Ne, das ist nur- Die Airoflot bietet jetzt unterschiedliche Menüs an, und ich wollte es mal ausprobieren. Schmeckte aber ziemlich eklig. Saß da und hab meine Sitznachbarn beneidet. Außer dem Essen gibt es ja in Flugzeugen keine Unterhaltung.“
Lachend und die letzten Neuigkeiten austauschend, die im halben Jahr meiner Abwesenheit sich ereignet hatten, machten wir uns auf den Weg zu einem guten Kaffeeplatz. Im Zentrum gab es immer viele Restaurants, die um ihre Gäste mit originellen Aushängen und farbenfrohen Dekorationen an den Schaufenstern buhlten. Doch wir gingen zielstrebig in den geprüften Laden Patio-Pizza. Schön zu wissen, dass an manchen Orten das Leben stehen geblieben ist und mit ihrer Beständigkeit lockt. Unveränderliche Speisekarte, unveränderlich guter Kaffee. Es dämmerte schon. Mein erster Tag in Russland neigte sich dem Ende zu. Wir fingen an, uns die gemeinsamen Bekannten ins Gedächtnis zu rufen. Alles interessiert einen.
„Übrigens, weißt du, wie man Goworkov finden kann?“
„Hast du’s noch nicht erfahren?“ Die Freude verschwand sofort aus Dimkas Gesicht.
„Was?“
„Er ist gestorben. Ist schon einige Jahre her. Ich war auf der Beerdigung. Wusste nicht, dass so viele Menschen da sein würden.“
In meinen Ohren begann ein sängender Lärm. Die Mitteilung von Goschkas Tod traf mich wie ein Schuss, durch die Lunge. Ich konnte nicht mehr atmen. Ich weiß nicht, wie man das Gefühl des Verlust eines Nahestehenden beschreiben soll. Wie ein Schlag mit dem Beilrücken auf den Kopf? Am ehsten.
Da wähnt man sich noch einige Sekunden zuvor voller Verfreude auf das Wiedersehen und wartet auf Nachrichten vom lebensfrohen Menschen, mit dem du viele angenehme Erinnerungen über viele Jahre hinweg verbindest, ganz zu schweigen von intimen Momenten. Und plötzlich – bam! Im Bewusstsein muss sich nun ein anderer, deiner Vorstellung völlig fremder Gedanke einnisten. Das war’s, ihn gibt es nicht mehr. Er ist für dich velor, für immer.
„Alles in Ordnung?“ Dimka nahm vorsichtig, in der Furcht mich zu verschrecken, meine Hand.
Ich saß da, schaute auf die bleich gewordenen Finger, und sah doch nichts durch die gläsernen Augen.
„Ich möchte allein sein.“
Wir fingen uns ein Taxi und fuhren nach Hause. Ich bemühte mich darum, den Verlust zu realisieren, denn wie hatte es passieren können? Nichts währt, auch der Schmerz vom größten Aderlass ebbt ab. Wie meine Großmutter zu sagen pflegte: „Auch das geht vorüber.“
Ein paar Tage später traf ich mich mit Jascha, einem Mitkommilitonen aus derselben Lerngruppe und einem guten Freund von Goworkov. Höflich Fragen über seine Familie und Kinder stellend, konnte ich kaum mein Hauptanliegen abwarten. 
„Du, Jascha, weißt du was über Egor?“
„Eine traurige Geschichte. Er hing die letzten Jahre an der Flasche. Schluckte dann zu viele Tabletten, und das war’s. Man hatte nicht mal die Zeit, um ihn zu retten. Und wießt du, warum? Weil es ja niemand ahnen konnte, dass es ihm schlecht ging. Niemand. Na, du weißt schon. Grinsend bis zum letzten Tag.“
„Und das Herz?“ Ich versuchte verwirrt, aus seinen Worten einen Sinn zu schöpfen.
„Das Herz? Ah, ja! Das ist die offizielle Fassung, ihn kannten ja schließlich viele Menschen, auf die Beerdigung kamen mehr als hundert Leute, wozu sollen die sowas wissen?“

14.
Die Gedanken über Goworkov verlassen mich bis zum heutigen Tag nicht. Ob ich ihn geliebt habe? Weiß ich nicht. Ob wir zusammen glücklich waren? Ohne Zweifel. Womöglich hätte alles anders kommen können. Denn das Schicksal führte uns nicht selten zusammen und stellte uns vor die Wahl. Die Wahl, unser Leben zu verändern, unsere Zukunft. Goschka war ein grelle und fröhliche Persönlichkeit, die versuchte hinter dem Image des „fidelen Hauses“ eine zerbrechliche und verwundbare Seele zu schützen. Ich verstand das. Verstand es noch jemand außer mir? Vielleicht wurde er in der falschen Zeit geboren, mühte sich ab, die Welt zu verändern, aber vergeblich? Er reagierte heftig auf Ungerechtigkeit, schrieb Gedichte, Artikel. Versuchte, etwas den Menschen mitzuteilen. Hat jemand ihn gehört?
Mir tut es sehr leid, dass das Schicksal uns keine Chance mehr auf ein Treffen schenken wird. Ich erinnere mich oft an ihn, aber was ist mir eigentlich noch von ihm geblieben? Mehrere Gedichten in meinem Kopf, eine Kassette mit Egors Liedern und ein paar vergilbte schwarz-weiße Photografien von meinem siebzehnten Geburtstag...
Und noch zwei Ringe – dünne goldene Ohrringe mit Diamantenschliff, die an einander befestigt sind. Sie sind noch immer kein einziges Mal angezogen worden.
 
Ich hab auch irgendwie gelebt,
mit irgendwem getrunken, mich irgendwo rumgetrieben.
Ich verstand es nicht zu lieben, doch liebte,
wie ich konnte und wollte.
Ich erwartete etwas von Menschen,
ich hetze die Pferde, bis sie röchelten,
ich dachte, es müsste schneller gehen,
und habe alles verpasst.
Und ich ahnte nicht, dass es so sein wird,
der beste Freund – ein Todesfeind,
ein jeder Schritt – der letzte Schritt,
ich konte es nicht glauben.
Und alle sprachen sie mir zu,
dass alles gut ist, wie es ist,
und dass es keinen glücklicheren Weg
als den unseren gibt.

Ich war im Übrigen auch nicht ganz der,
der ich allen schien.
Ich hab mich auch damit getröstet,
dass man so leben muss wie die Anderen.
Und blieb wie die Anderen zurück,
war wie die Anderen zufrieden und glücklich.
Und war wohl kaum dafür zu beschuldigen,
und wer sollte das auch tun?
Doch konnte ich – aus welchem Grund? –
meine Lektion nicht ausreichend verinnerlichen,
um mich in den Dialog einzuschreiben,
für eine längere Dauer.
Und vielleicht hatte ich nicht recht,
alles verändern zu wollen.
Allein, was soll man da noch sagen,
konnte ich nicht weiter.

April 2011
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