Die Geworfene Muenze

Das Maedchen war sehr nett – mit so einem froehlichen Gesicht und anziehendem Laecheln.
Ich fand sie schoen – einfach schoen. Es gibt solche Maedchen, die mit ihrer gar nicht knalligen, sondern charmanten Reiz alle Blicke an sich fesseln. So war sie auch. Von Zeit zu Zeit sah ich sie an, heimlich, und mit jedem geworfenen Blick gefiel sie mir immer besser.
Wir befanden uns tief unter dem Boden, in der moskauer Metro – in dieser riesigen duesteren Burg mit unzaehligen alten Galerien und herrschendem Niederschlagenheitsgefuehl. Das Maedchen und ich fuhren im gleichen Wagen – sie, an der Tuer stehend und mit ihrer Freundin plaudernd; ich, ein bisschen rechts von ihr, gerade vor dem Fenster, mich an dem Griff festhaltend und irgendwo tief in meinen Gedanken wie in dieser Dunkelheit jenseits des Zugfensters gesunken.
Das Maedchen laechelte. Ich musste auch laecheln – nicht diesem schoenen Geschoepf, sie merkte mich sowieso nicht -, sondern diesem merkwuerdigen ausserordentlichen Fall. Unser alte eiserne ueberfuellte Wagen, das lange eiserne Fass, lief schnell, unaufhoerlich, unbesonnen und leblos durch die Schwaerze des Betontunnels, klirrend, heulend, pochend und schaukelnd. Darin waren irgendwelche Lebewesen hineingesteckt worden – graue Menschen, mit grauen Gesichtern, grau angekleidet. Nicht nur der Wagen war mit Menschen ueberfuellt, die Menschen selbst waren mit dem Wagen, mit seinem Laerm uebersaettigt.
Und in dieser grauen, toten Masse stand sie – das Maedchen. So schoen, jung, froehlich, so lebendig… Das war alles so gleich banal und wundervoll, dass ich erschuettert war.
Im Fenster begannen die Lichter der Station zu flimmern. Der Zug bremste ruckweise und hielt endlich. Eine dumpfe Maennerstimme erklaerte aus den Lautsprechern: „Stanzija Ohotnyj Rjad “. Die Tueren fuhren auseinander, die Masse floss aus. Das war meine Station – sowie eigentlich auch des Maedchens. Sie und die Freundin verabschiedeten sich und kuessten einander. Die Russen kuessen sich schrecklich oft – als ob sie alle einander schrecklich stark liebten. Da es meistens gar nicht so ist, verwandelt sich diese sehr persoenliche und geheime Tat ins Spiel. Oder in die Formalitaet – wie alles herum.
Ploetzlich sah mich das Maedchen an. Nicht absichtlich – ihr Blick traf bloss meine Augen und sie blickten ungewollt in die Tiefe ihrer Augen. Und fanden dort etwas. Etwas Unerklaerliches. Eleganz? Das schon, aber vor allem - …
Es dauerte eine halbe Sekunde und dann flossen wir beide mit der Masse hinaus. Auf der Station war der Menschenfluss nach der unbegreiflichen Gesetzmaessigkeit in zwei Stroemen geteilt – diejenige, die zum Ausgang flossen und die anderen, die sich zum UEbergang auf die Gruene Linie beeilten. Ich brauchte die Gruene Linie.
Das Maedchen auch.
Ich wollte sie aus den Augen nicht verlieren. Ich benoetigte jemanden, der mir beweisen konnte, dass es aus dieser bloeden leblosen Masse einen Ausweg gibt. Und dass ich dazu nicht gehoere. Das Maedchen konnte das – daran wollte ich mindestens glauben.
Und was mich noch bewegte, war ihr letzter Blick auf mich. Dieser unklare Ausdruck liess mich nicht in Ruhe und ich wusste, dass ich ihn unbedingt erraten soll.
Und deswegen folgte ich ihr.
Der Menschenstrom trieb uns zur Rolltreppe, darauf fuhren wir irgendwohin nach unten, in eine andere Hoelle dieser unterirdischen Burg, und bogen gleich nach links. Die lange weisse Galerie des UEbergangs war stark beleuchtet; es waren hier schon viel weniger Menschen als auf der Station, alle gingen frei und schnell, in einiger Entfernung voneinander, als ob sie damit eine gewisse Entschaedigung fuer das neuliche Gedraenge haetten bekommen wollen. Das Maedchen ging gerade vor mir. Mit Vergnuegen betrachtete ich ihre langen blonden Haare, die unter der kleinen weissen Muetze hervor auf ihre Schultern wie ein Wasserfall abstuerzten. Ich sah jetzt nicht ihr Gesicht; aber ihr froehliches, bezauberndes Laecheln blieb doch in meinem Gedaechtnis und ich bildete mir ein, das Maedchen habe dieses Laecheln bis jetzt auf den Lippen aufbewahrt.
Und es schien mir ploetzlich, dass diese schoene Blondine mich aus der Masse schon hinausgezogen hatte.
Irgendwo in der Mitte des Ganges, sich an die weisse Wand angelehnt, stand eine alte Bettlerin, wie eine schwarze Flecke in dieser weissen Galerie. So was sieht man hier in Russland sehr oft, aber besonders – in der U-Bahn. Die Bettler stehen ueberall, in den Stationen und in jedem UEbergang, diese Gewoelbebewohner, die alle Tage hindurch in der unterirdischen Burg verbringen. Sie stehen regungslos, mit erloschenen Augen, keine Menschen, sondern trauervolle Statuen. Manchmal wirft jemand ihnen ein paar Muenzen – ganz unwillkuerlich, fast mechanisch, und geht weiter.
Diese alte Frau hatte aber einen ganz besonderen Blick. Einen aussuchenden Blick. Ihr Gesicht war sehr muede, von den Schwierigkeiten des Lebens, vom Elend bedrueckt, aeusserst haesslich und aeusserst alt. Aber es war doch etwas in diesen Augen – die Einsamkeit, vielleicht. Und wenn man Einsamkeit in den Augen sieht, dann sieht man das Leiden, und wo das Leiden ist, dort ist ein Mensch, weil nur ein Mensch so leiden kann.
Die Bettlerin war also gerade dieser leidende Mensch, der um Hilfe bat. Unter den Vorbeigehenden suchte sie jemanden, der auch Menschlichkeit hatte, sie wollte etwas Warmes in diesem kalten UEbergang fuehlen. Und sie fand nichts. Einige gingen vorbei, die anderen gaben ihr ein wenig Geld – aber das war egal.
Ich sah wieder das Maedchen an. Sie soll jetzt etwas machen, dachte ich. Sie wird etwas machen, etwas Echtes, Menschliches, Warmes.
Das Maedchen naeherte sich der Frau und blieb stehen. Sie oeffnete ihre Tasche und zog eine kleine Geldboerse daraus. Glotzaeugig blickte ich auf diese Geldboerse. Nein, wollte ich schreien, mach das nicht, bitte nein! Aber die Blondine zog schon eine Muenze heraus – eine kleine, fuer 1 oder 2 Rubel – und hielt sie zwischen dem Zeigefinger und dem Daumen fest. Die Naegel ihrer Finger waren mit rotem Lack bedeckt – so recht schoene Finger und eine Muenze dazwischen.
Das Maedchen blickte nicht einmal in die Augen der Bettlerin. Sie wendete sich ab und wollte schon gehen; die Finger oeffneten sich und die Muenze fiel hinunter – nicht in die Hand der Bettlerin, sondern auf die Fussbodenkachel, mit so einem Klang, als ob irgendeine Seele gefallen und zerbrochen waere. Das Maedchen ging weiter – und ich wusste, dass sie gerade dasselbe Laecheln wie zuvor hatte.
Die Bettlerin bekreuzigte sich, verbeugte sich vor dem Maedchen und hob die Muenze auf. Und dann schaute sie noch einmal auf das fortgehende Maedchen – aber schon mit einem wehmuetigen, flehenden Blick. Und senkte traurig die Augen.
Ich blieb stehen. Ploetzlich verstand ich, was fuer einen Ausdruck die Augen des Maedchens hatten. Einen ganz bekannten Ausdruck – wie konnte ich ihn frueher nicht erkennen?
Diesen gewoehnlichen Ausdruck der inneren Leere…
Ich weiss nicht, wie lange ich in der Mitte dieser weissen Galerie blieb und mich nicht ruehren konnte. Aber das ist egal. Ob das dreissig Sekunden oder zehn Minuten waren – was ist der Unterschied? Was konnte man jetzt ueberhaupt mit dem Unterschied zwischen heller Hoffnung und tiefer Enttaeuschung vergleichen?
Der Menschenstoff kam wieder – er floss wieder durch den UEbergang. Heftig und unaufhoerlich. Jemand stiess an mich, verfluchte – du Idiot, was stehst du wie angewurzelt!? – und ging rasch weiter. Ich verstand, dass ich jetzt wie eine Sperrmauer in der Mitte der Masse war und dass ich vielleicht diesen Strom haette bremsen koennen, aber das klappte nicht. Und dann verstand ich, dass diese alleinstehende Bettlerin und ich etwas AEhnliches hatten – mindestens, suchte ich auch nach einem Menschen, einem echten Menschen, der in diesem Wahnsinn noch nicht ertrunken waere, der mir helfen wuerde, da ich allein das bestimmt nicht schaffe, weil ich dafuer zu schwach bin. Aber – es war nur die Masse um mich herum, sich mechanisch bewegende Masse. Und die Bettlerin. Die Menschen gingen auf sie zu, warfen Muenzen und verschmolzen wieder in der Masse. Als ob sie programmiert waeren. Als ob sie Mechanismen waeren…
Es steht irgendwo – in der Bibel wohl – dass es eine Tugend ist, Almosen zu geben. Aber was ich jetzt sah war doch keine Tugend sondern Tuerei. Es war dasselbe heuchlerische Spiel wie auch das mit den falschen Kuessen, erheuchelten Umarmugen und leeren Laecheln. So war es auch mit den geworfenen Muenzen. Sie fielen auf die Fussbodenkachel und der Klang war wie ein erbitterter Hohn auf die Tugend. Auf die Menschlichkeit. Auf das Flehen der Alten. Was konnte denn dieser Menschenstoff ueber die echte Almose wissen!? Was wusste ich selbst darueber?..
Vielleicht wusste ich nur, dass wenn es wirklich irgendwann und irgendwo eine echte, unverfaelschte, aufrichtige Almose vorhanden gewesen war, dann ist davon bis heute nur sehr wenig uebriggeblieben. Nur die Form. Der ganze Sinn ist in diesem Menschenhaufenmeer zergangen.
Aber was haetten wir denn alle machen sollen? Was konnte dieses Maedchen tun? Was erwartete ich von ihr, von den anderen, von mir selbst eigentlich? Wenn ich nicht einmal wusste, was man unter einer echten Bescherung verstehen sollte? Wenn mir jemand bloss nur ein Vorbild gegeben haette, ein Vorbild der richtigen Verbindung von Sinn und Form, des Geldbeitrages mit der echten Barmherzigkeit, dann haette ich es schaffen koennen, dann wuerde ich vielleicht…
Ich zuckte ploetzlich zusammen. Die Bettlerin schaute mich an. Mit diesem schuechternen, auf das Wunder hoffenden Blick. Das alte Gesicht, von Furchen durchzogen, schlaffe Haut – und der Blick, schon wieder voller Hoffnung. Nur ein Moment waren unsere Augen aneinander gefesselt. Ihre stumm fragenden Augen. Meine nichts antwortenden Augen. Ihre enttaeuschten Augen. Als ob sie gefragt habe – et tu quoque, Brute!?
Ich konnte nicht mehr. Ich wollte das stoppen. Ich wollte diesen Gedanken entfliehen. Ich wendete ab. Was konnte ich denn tun? Was konnte ich ihr geben, wenn ich selbst nichts ausser Angst hatte?
Und ich ging weiter. Der Strom trieb mich weiter.
Immer vorwaerts. Sich nicht umdrehen. Immer schneller. Bis zum Ende der weissen Galerie. Und dann nach rechts. Und die Treppe hinunter. An die „Teatralnaja“ Station. Gleis 1. Nordwestrichtung. Der ankommende Zug. Scheussliches Gepolter. Tueren auf. Sich hineindringen. Dumpfe Frauenstimme aus den Lautsprechern. „Ostorozhno, dveri sakryvajutza“ . Tueren zu.
Dunkelheit des Tunnels.
Und irgendwo jenseits dieser Sperre – ein altes, trauriges Gesicht.
01. 2005


Anmerkungen:
1. Et tu quoque, Brute!? – lat. fuer „Und du auch, Brutus!?“ (die letzten Worte von Gajus Julius Caesar, an seinen ihn verratenen Freund Brutus adressiert)
2. Ostorozhno, dveri sakryvajutza - russisch fuer „Vorsicht: die Tueren zu“.


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