Je weisser der Elefant, desto mehr Gluck bringt er

Ubersetzung: Sonja Ruf



Susanne ist krank. Die Arzte haben ihr verboten auf die Strasse hinauszugehen und mit den anderen Kindern zu spielen: „Dein Immunsystem ist so geschwacht, dass jeder Kontakt gefahrlich sein kann.“
Sogar zu Hause muss sie eine Atemschutzmaske tragen.
Mit der Aussenwelt ist sie nur uber das Telefon verbunden.
Und es gibt keine Aussicht, dass sie bald gesund werden wird.
„Warum ist das so? Was habe ich bloss falsch gemacht?“
Aber darauf gibt es keine Antwort, und so ist Susanne immer traurig, ob es Tag ist oder Nacht.
Niemand von den Erwachsenen macht ihr Mut. Also uberlegt sie sich selbst, was ihr helfen koennte, ob es nicht irgendein Wunder gibt -, einen Tropfen Hoffnung.
Einmal hat sie vom wei;en Elefanten Sitbangpraschan in Thailand gehoert. Er soll den Gesunden das Gluck bringen und Tausende kranke Menschen geheilt haben.
Ohne viel Zeit zu verlieren, setzt Susanne sich hin und schreibt ihm einen Brief: „Teurer Elefant Sitbangpraschan! Ich habe gehoert, dass man dich sehr mag und sehr achtet, weil du viele hoffnungslos kranke Menschen in deinem Land gesund gemacht hast. Wahrscheinlich bist du ein grosser Zauberer. Ich brauche deine Hilfe, aber ich kann nicht zu dir kommen, weil Thailand sehr weit weg liegt, und die Arzte mir nicht einmal erlauben, unser Haus zu verlassen. Vielleicht kannst du mich besuchen? Nur fur einen Tag, oder mich wenigstens anrufen. Ich erwarte deine Antwort sehr dringend. Susanne.“
Sie legt den Brief in einen Briefumschlag und bittet ihre Mutter, ihn an die thailandische Botschaft zu schicken. Die Leute in der Botschaft werden dann schon damit zurecht kommen.
Eine Woche spater klingelt das Telefon. Aus Thailand!
Es ist der Elefant Sitbangpraschan.
Er spricht sehr gut Deutsch, und seine Stimme toent freundlich aus dem Hoerer.
Zuerst  erkundigt er sich danach, wie es Susanne geht, und ob sie auch alles befolgt, was der Arzt anordnet. Dann erzahlt er ein wenig von seinem Leben und von Thailand.
Susanne fragt: „Bist du auch wirklich ein weisser und nicht doch etwa ein grauer Elefant?“
„Ich bin weiss.“
„So richtig weiss-weiss. Bist du der weisseste von allen Elefanten?“
„Aber naturlich. Wie koennte ich denn sonst mit dir sprechen? Du musst doch wissen, dass die grauen Elefanten kein Deutsch sprechen.“
Das stimmt. Noch nie hat einer der grauen Elefanten im Zoo auch nur ein Wort zu ihr gesagt.
Sie fragt weiter: „Bist du eigentlich weiss auf die Welt gekommen oder erst spater weiss geworden?“
„Nein, ich bin nicht weiss geboren, sondern rosa. Genauso wie alle anderen Elefantenbabys. Aber spater trank ich sehr viel Milch, und davon wurde ich allmahlich weiss.“
„Gibt es denn in Thailand Milchkuhe?“
„Oh ja. Sehr viele. Magst du Milch?“
„Schon, aber lieber Joghurt mit Fruchten. Du, haben nur weisse Elefanten Zauberkraft oder die anderen auch?“
„Nur die Weissen. Bei uns in Thailand sagt man: Je weisser der Elefant, desto mehr Gluck bringt er.“
„Kannst du mir helfen, gesund zu werden?“
„Ich werd;s versuchen. Aber du musst auch etwas tun. Wenn du immer so traurig bist und nicht richtig auf das hoerst, was die Arzte sagen, dann koennen dir auch meine Fluidas nicht helfen.“
„Fluidas? Was ist das denn?“
„Das sind unsichtbare Stuckchen vom Gluck. Es ist namlich sehr schwierig, das grosse und ganze Gluck anderen zu ubergeben. Deshalb zerreisse ich das Gluck in kleine Stuckchen und schicke es dann zu meinen Freunden. Du bist ja jetzt auch meine Freundin, oder?“
„Ja“, ruft Susanne begeistert, „und wann kommst du? Wirst du wirklich zu mir kommen?“
„Naturlich werde ich zu dir kommen, aber nicht gleich. Uberall sind viele Menschen krank, und ich soll allen helfen, verstehst du? Da hab ich viel zu tun.“
„Das verstehe ich.“
Sie verabschieden sich, und Susanne legt auf. Nach dem Gesprach mit Sitbangpraschan geht es in ihrem Kopf wirr durcheinander. Diese Fluidas kann sie sich nicht richtig vorstellen. Sie denkt sich, wie der weisse Elefant auf einer Blumenwiese sitzt und auf seinem Schoss das unsichtbare Leinen des Glucks liegt. Dieses Leinen reisst er in lauter kleine unsichtbare Stuckchen, und die wiederum legt er in viele viele unsichtbare Schachteln. Die er dann seinen Freunden uberall auf der Welt schickt.
Sie hat nicht mehr so viel Angst wie fruher.
Sie fuhlt sich viel ruhiger. Was die Arzte mit ihr machen, regt sie nicht mehr so auf. Sogar die Medizin, die sie immer schlucken muss, schmeckt nicht mehr so ekelhaft.
So vergehen die Wochen. Jeden Tag erwartet sie ein unsichtbares Paket aus Thailand, oder dass der Elefant zu Besuch kommt oder wenigstens noch einmal anruft. Aber es klingelt weder das Telefon, noch an der Tur.
Susanne ist ein kluges Madchen. Sie weiss, dass es auf der Welt viele Menschen, aber nur ganz wenige weisse Elefanten gibt. Da muss sie Geduld haben und warten lernen.
Doch auf einmal hat sie einen schrecklichen Verdacht: „Und wenn Sitbangpraschan das Gluck  ausgegangen ist? Wenn er nichts mehr hat?“
Sie bemuht sich, den traurigen Gedanken zu vertreiben, denn davon koennen die Fluidas verderben.
Vor dem Fenster geht allmahlich der Herbst zu Ende. Es wird Winter, und es schneit. Susanne muss immer noch zu Hause bleiben, aber wenigstens muss sie die Atemschutzmaske nicht mehr tragen. Die Arzte haben namlich bemerkt, dass sich ihr Zustand gebessert hat.
Es sind nur noch ein paar Tage bis Weihnachten, und die Leute kaufen Christbaumschmuck und Spielzeug. Susanne ist allein zu Hause. Ihre Eltern haben gesagt, sie w;rden einkaufen gehen.
Auf einmal klingelt es an der Haustur.
Susanne geht zu der Sprechanlage. „Wer ist da?“
Es ist der Elefant Sitbangpraschan.
„Ich bin angekommen. Schau mal durch dein Fenster.“
Susanne lauft zu ihrem Schlafzimmerfenster. Und wirklich: Draussen steht der weisse Elefant. Er schaut sie aus Kartoffelaugen an, sein Russel ist gerade wie ein Stecken und reicht bis zum Boden. Seine Stosszahne glitzern, es sind zwei kristallene Eiszapfen.
Er sieht richtig echt aus, aber das allerallerwichtigste ist: er ist blendend weiss. Er ist der allerweisseste von allen weissen Elefanten, und sie fuhlt genau, wie er ein unsichtbares Fluida des Glucks nach dem anderen in ihre Richtung schickt.


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