die Soehne des Vaterlandes

Die Soehne des Vaterlandes
oder: Die Reisegefaehrten



Ich begegnete ihnen bei einer Reise in die Slowakei. Sie machten auf mich keinen besonderen Eindruck. Der einzige Grund, der mich sie ansprechen liess, waren die konzentrierten, habsuechtigen Blicke auf meinen Reiseproviant. Ich beschloss nicht sofort etwas anzubieten, sondern lenkte ab und schlug vor zu rauchen. Wir befanden uns in einem Raucherwaggon zweiter Klasse, den man im Vergleich zu unseren inlaendischen ohne weiteres als einen Wagen der ersten Klasse bezeichnen koennte. Und so, rauchend, begannen wir einander kennen zu lernen. Sie sahen in mir sofort einen Russen, obwohl ich von diesem russischen Blut nur ganz wenig in mir habe. Zudem noch lange Haare, Ohrringe im linken Ohr, und ueberhaupt – mein Aussehen, wie mir schien, passte gar nicht zu einem Slawen. Es wurde mir peinlich, dass ich sie nicht darauf hinwies. Meine Reisegefaehrten hiessen Wladimir, der der Aeltere war, und, wie sich spaeter herausstellte, sein Bruder Aleksej.

Wladimir war ein echter Russe, dunkelblondes Haar, scheinbar seit einer ganzen Woche unrasiert, blaue Augen und breite Backenknochen, schlank, etwas groesser als mittelgross. Aleksej hatte rotblonde Haare und eine ganze Menge an Sommer-sprossen, die reichlich auf seinem Gesicht verstreut waren. Er war auch schlank, mittelgross.

Der Aeltere, Wladimir, teilte mir frech mit, dass sie nach Bratislava ohne Eisenbahnfahrkarte fahren, und bat mich, sie bei der Kontrolle, wenn sie sich unter den hinteren Sitzbaenken verstecken wuerden, nicht zu verraten. Auf meine zustimmende Antwort fuegte er hinzu, dass sie illegal reisten, worauf ich antwortete, dass ich das verstanden haette, da sie keine Fahrkarte besaessen.

„Nein“, entgegnete er, „wir fahren von Russland nach Oesterreich, ohne Reisepaesse und Fahrkarten!“ Das machte mich neugierig und ich fragte: „Woher stammen Sie?“

„Aus Perm“, er sah seinen Bruder schief an. „Wir sind aus einem Kinderheim“, fuegte Wladimir lustlos hinzu. „Aber Sie schauen Kindern nicht sehr aehnlich!“, widersprach ich ihm. „Das heisst, wir waren es, aber wie das Leben so spielt, sind wir Vagabunden geworden. Weswegen wir beschlossen haben, nach Europa auszureisen, auf welchem Weg es auch sein sollte!“

„Aber der Zoll, die Schaffner?!“ „Wir fuhren bis zur Grenze und ;berschritten die Grenze zu Fuss“, fuegte Aleksej, geniert wegen des Blicks seines Bruders, hinzu. Um sie f;r ein Gespraech zu gewinnen, weil sie mich neugierig gemacht hatten, schlug ich ihnen vor, zusammen einen Imbiss zu nehmen. Worauf sie mir antworteten, dass sie kein Essen haetten. „Ich mache einen Spaziergang in den Speisewagen, und Sie warten auf mich bis ich zurueckkomme, okay?“

„Okay“, antwortete Aleksej munter. „Aber gehst du auch nicht zum Schaffner?“, fragte Wladimir misstrauisch. „Es bleibt Ihnen nur, meinen Worten zu trauen“, antwortete ich im Hinausgehen. Bis zur naechsten Haltestelle war es sehr weit, daher machte ich mir keine Sorgen um mein Reisegepaeck.

Ich nahm drei Cheeseburger und drei Bier und kehrte zurueck. Zu meinem grossen Erstaunen fand ich das Abteil verlassen. „Erschrockene Dummkoepfe!“, sagte ich laut und veraergert. Ich wollte doch gerne erfahren, was genau sie zu diesem abenteuerlichen Unternehmen draengte.

Da hast du’s, sie vertrauen mir nicht, sind weggelaufen. Wer weiss, was ich vielleicht an ihrer Stelle getan haette. Man darf nicht jedem vertrauen, selbst den Russischsprachigen, aber umso weniger unbekannten Menschen. Mein Gepaeck blieb unberuehrt. Ich legte Cheeseburger und Bier auf den Schreibtisch hin und setzte mich auf meinen Platz, als ich etwas hoerte. Es raschelte etwas unter dem Sessel, und ich erinnerte mich, dass sie vorhatten, im Falle einer Kontrolle auf dem Boden zu liegen. Genauso geschah es.

Die drei Cheeseburger erblickend, begannen ihre Augen zu funkeln. Und es schien mir, als waeren ihre Augen nicht geoeffnet, sondern etwas in ihren Augen. Sie verschlangen die Cheeseburger blitzschnell. Wir machten auch das Bier auf und rauchten Zigaretten.

„Wie alt sind Sie, Wladimir?“, fragte ich, unser Gespraech wieder aufnehmend. „Vierundzwanzig“, antwortete er schon etwas zufriedener. „Ich bin zwanzig Jahre alt“, fuegte Aleksej mit jugendlichem Laecheln hinzu, das sein kindliches und vielleicht sogar naives Gesicht schmueckte. „Aber wie heissen Sie?“ Zu meinem groe;ten Erstaunen fragte mich Aleksej per Sie. „Aleksandr“, antwortete ich. „Ich bin fuenfundzwanzig Jahre alt“, fuegte ich nach einer langen Pause hinzu.

 Oesterreich – diese Schoenheit, diese Sattheit!

„Ich bin dienstlich unterwegs, ich bin Journalist, ich fahre nach Bratislava, um ein Interview mit Herrn M. zu machen.“

„Wirklich? Sie sind  Journalist?“, fragte Aleksej erstaunt. „Sind Sie ein wichtiger Journalist? Hol’s der Teufel! Ich sitze zum ersten Mal neben einem Journalisten“, sagte er selbstzufrieden. „Ich dachte“, sagte er, „dass alle Journalisten bei sich in den Bueros sitzen und sich nicht weit hinauslehnen! Da hast du’s!“

Die Wand zwischen uns war verschwunden, wir fuehrten ein offenes, freies Gespraech. „Wohin nach Oesterreich fahren Sie, und warum gerade nach Oesterreich?“

„Wir haben es im Fernsehen gesehen. Die Berge, Haeuschen wie Spielzeug, die Schoenheit und die Sattheit. Da ist nichts wie bei uns, der Schmutz und der Hunger!“

„Also auf der Suche nach einem besseren Leben?“

„Stimmt!“, antwortete Wladimir. “Ist das Leben in Russland unmoeglich, oder haben Sie in dieser Hinsicht andere Probleme? Sie muessen nicht antworten, wenn Sie nicht wollen“, fragte ich Wladimir – gespannt lauschend.

„Ja, nein. Es geht nicht nur darum ob es unmoeglich ist oder ob wir Probleme haben. Die Probleme sind ueberall. Urteilen Sie selbst: Wir sind im Kinderheim aufgewachsen, dann in einer Internatsschule, dann die technische Berufsschule oder die Strasse. Ich hatte Glueck, ich war beim Werkmeister nicht beliebt, er warf mich hinaus. Und dann die Strasse. Aber siehe da, Aleksej wurde mit einem Fusstritt aus dem Internat geworfen. So wanderten wir von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt. Bis wir Weissrussland erreichten. Wir fanden Arbeit bei einem Mann, bei dem wir in der Diele wohnten. Manchmal erlaubte er uns, fernzusehen. Besonders mochten wir die Sendung  „Um die Welt herum“, in der wir Oesterreich, Italien, Frankreich und andere Laender sahen. Und so beschlossen wir, unser Glueck in Oesterreich zu versuche, da es naeher ist als die anderen Laender. Und in der Internatsschule lernten wir auch Deutsch; und so waehlten wir es gerne aus. Man wird sehen, was die Zukunft bringt!“

„Da werden Sie dort Geld verdienen und heimkehren?“

„Nein“, fiel Aleksej mir ins Wort, „nach Russland kehren wir nie mehr zurueck!“

„Aber was ist mit der Heimat?“, fragte ich erstaunt. “Wird sie euch nicht fehlen?“

„Wir haben keine Heimat. Was wir gehabt haben, kann man das Heimat nennen? Ich moechte sie bis zum Grab nicht wieder sehen.“

Ich fuehlte, dass mir die Worte in der Kehle stecken blieben. Ich war immer Patriot meiner Heimat, auch in den Minuten, in denen mir vorkam, dass sie mich nicht brauchte. Seine Heimat nicht  zu lieben, so ein Gedanke ging ueber mein Verstaendnis. Ich konnte das Gespraech nicht mehr fortsetzen. Obwohl ich mir f;r einen Augenblick vorstellte, dass sie Recht hatten. Jeder von uns hat seine eigene Wahrheit, und eine Wahrheit gleicht nicht der anderen. „Spaeter, Wladimir, werden Sie sich an das alte Vaterland Russland erinnern. Russland, welches euch, so ist es doch, das Leben gab. Sie werden das bald verstehen, so wie ich. Seinerzeit ging ich ;ber diese ..“ Ich konnte nicht zu Ende reden, wir naeherten uns Bratislava. Ich lie; den Bruedern meinen Proviant, Zigaretten und 300 slowakische Kronen zurueck.

Nach dem Gespraech war ich schlecht gelaunt. Russland tat mir leid, und auch die, die es verlassen hatten. Ich versuchte mich zu ueberzeugen, dass die Worte von Wladimir nur eine Bitterkeit wegen der auf seinem kurzen Lebensweg durchlebten Jahre war. Dass er eine ganz andere, verschlossene Seele hat. Doch ich weiss, dass Europa sie lehren wird, Russland lieb zu gewinnen.

Die bitteren Lehren der Realitaet fuegen dem Auslaender, besonders uns Slawen, jene herben, von der Zeit geschnittenen Falten  im Gesicht zu,  wo auch immer du als Auslaender bist. Auch wenn das Glueck dir hold ist und dich vor der Armut und dem Wandern schuetzt. Aber wie viele jener Weggefahrenen, Weggeflogenen und Weggegangenen haben Russland tatsaechlich fuer immer verlassen!


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