Opas alte Uhr

               


Schon seit sieben Jahren liegt die alte Armbanduhr meines Grossvaters in einer selbstgemachten Kartonschachtel. Seit sieben Jahren ist mein Grossvater nicht mehr da und die alte Armbanduhr laeuft nicht mehr. Manchmal hole ich sie aus der Schachtel und halte in meinen Haenden. Es ist eine schoene mechanische Armbanduhr. Ich lege sie wieder in die Schachtel zurueck, meine Haende riechen noch lange nach Metall.

In den Sommerferien durfte ich zu meinen Grosseltern. Auf diese Zeit freute ich mich sehr. Meine Oma war eine ganz besondere Person. Sie war immer am lachen, immer stolz auf mich und so klug und weise. Mein Opa dagegen war sehr ernst. Er war gross, mager und grauhaarig.
Ich erinnere mich an seine kraeftige, sehr laute Stimme und seine grossen finsteren Augen. Als Kind hatte ich immer Angst vor ihm.
Jeden Morgen stand er von seinem Bett auf, schweigend bekleidete er sich und ging hinaus. Abends kehrte er muede nach Hause zurueck, nahm sein Abendbrot und verschwand im Schlafzimmer. Ich war immer traurig und betruebt  darueber, dass er mir selten ein nettes Wort sagte oder einfach anlaechelte.
Einmal fragte ich die Grossmutter:
„ Oma, warum ist der Grossvater so? Mag er mich nicht?“
Oma  umarmte mich und schuettelte den Kopf:
„ Nein, mein Schatz, Opa hat dich sehr lieb. „

In meinem Grossvater waren sehr deutliche Merkmale des Kaufmanns. Spaeter erfuhr ich, dass mein Urgrossvater, bekannter im Bezirk Kaufmann, ein strenger Vater war, der alles fuer seine sechs Kinder tat, aber auch erwartete, dass seine Sicht der Dinge von allen akzeptiert wurde. Beim Abendbrot alle sassen und warteten bis er seinen Loeffel voll macht und ihn in den Mund schiebt, erst dann durften alle essen. 
Mein Grossvater folgte dieser Familientradition.

Alles, was er tat, war ernst. Ob er im Vordergarten mit Nachbarn ueber schoenes Wetter oder gute Ernte sprach, mit mir mal Einkaufen ging oder die Oma etwas aus der Zeitung vorlas.
Opa las gerne. Morgens ging meine Oma zum Briefkasten, holte die Kreiszeitung und legte sie vor ihn. Der Grossvater las die Zeitung gruendlich, den Wirtschafts- und Politikteil  mehrfach. Wenn er etwas Wichtiges fand, las er laut vor.
„ Die Politiker koennen machen was, sie wollen, aber wir sollen unsere Arbeit weiter so gut, wie moeglich machen. Ich werde arbeiten, bis ich sterbe, wie mein Vater“, sagte der Opa oft und schaute auf seine Armbanduhr, die ihm sein Vater schenkte.
Mein Grossvater widmete sich ganz seiner Arbeit. Er hatte einen starken und robusten Charakter.
„  Seine Arbeit ist fuer ihn das Wichtigste“, seufzte oft die Oma.
Ich verstand es nicht. Mich beschaeftigte damals der Gedanke, „warum mein Opa oft so ernst und betruebt ist, warum spielt er nicht mit mir“.

Die Zeit verging.
Jahre spaeter besuchte ich wieder meine Grosseltern. Die Oma war froh mich wieder zu sehen.
 „Opa ist in seinem Zimmer “, sagte sie leise.
Ich ging rein ohne zu klopfen. Der Grossvater lag auf dem Bett neben dem offenen Fenster. Er war sehr krank. Sein Gesicht war grau und schmerzverzerrt, aber seine Augen waren klar.
„ Ich habe dich erwartet. Setzt dich.“
Der Opa zeigte auf den leeren Stuhl.
„ Wie war dein Flug?“  fragte er mich nach einer kurzen Pause.
„ Gut“, antwortete ich zurueckhaltend. “Und wie geht es dir?“
„Ich sterbe bald“, sagte der Grossvater und trocknete sich die Augen. “Ich spuere es. Nachts kann ich nicht schlafen. Wenn ich doch einschlafe, dann sehe immer meinen Vater, deinen Uropa. Er ist schon lange tot. Er kommt zu mir im Traum, schaut mich bitterlich an und sagt: “Mein Sohn, deine Armbanduhr ist kaputt, lass sie bei meinem Uhrmacher reparieren.“
Ich schaute verwundert auf Opas Uhr.
„ Aber sie ist doch nicht kaputt!“
„Ja. Noch nicht…“
Der Grossvater nahm die Armbanduhr in die Haende und sagte:
„Ich moechte, mein Spatz, zu dir ehrlich  sein. Ich hab dich immer gemocht. Ich liebte sehr deine Stimme, dein Lachen und deine Lebensfreude. Oft unterdrueckte ich meine Gefuehle zu dir, weil ich anders erzogen war. Ich gestehe meinen Fehler und bitte um Verzeihung.“
Traenen fliessen ueber seine eingefallenen, faltigen Wangen. Ich nahm seine kalte zitternde Hand und streichelte sie troestend.
Der Opa holte kurz Luft und sagte:
„ Mein Kind, sei immer ehrlich zu dir selbst. Finde fuer dein Leben heraus, was Luege und was Wahrheit ist. Und glaub immer an dich selbst. Und jetzt geh, ich moechte allein sein“.

Kurz vor seinem Tod quaelte mich ein Albtraum. Ich laufe ueber dunklen unbekannten Strassen einer fremden Stadt. Ich suche meinen Opa. Es ist sehr dunkel. Die Haeuser standen dicht aneinander, sie hatten dunkle Fenster, aber keine Tueren. Es ist furchtbar. Es nieselt leicht und es ist kuehl. Ich laufe weiter, spuere den kalten Wind auf meinem nassen Gesicht. Dann bleibe ich kurz stehen, um Atem zu holen und schaue mich um. Die Haeuser sind auf einmal weg, nur die alten Autos, die nach Maschinenoel widerlich riechen. Ich kriege keine Luft mehr. Ich muss weg, egal wohin, aber weg von dieser Stadt. Ich weine und laufe weiter. Kein Mensch ist zu sehen, nur der Mond leuchtete truebe. Ich bekomme Durst. Dann sehe ich eine Bruecke ueber dem breiten Fluss. Ich laufe schnell hin und beuge mich ueber das Wasser. Es ist rotbraun und richt komisch suess. Der Fluss voller Blut.  Entlang des Flusses erstrecken sich hunderte Tuermen mit Zifferblatt ohne Zeiger.
 
Mein Opa starb.
Als er starb, blieb seine Armbanduhr stehen.

Manchmal halte ich die Armbanduhr meines Opas, die er so lange getragen hatte, in meinen Haenden. Dann raeume ich sie wieder in den alten Karton.
Die alte Armbanduhr laeuft nicht mehr, aber ich werfe sie niemals fort.


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