Irrtum des Notar

Ivan Gaudi

Der Irrtum des Notars

An jenem regnerischen Herbstabend eilte der Rechtsanwalt Paul Catard nach Hause. Sein kleiner Renault raste ;ber die Uferstra;e und ;berholte alle anderen Autos auf dem Weg. Irgendwo oben am Himmel grollte ein Donner, und oberhalb der Horizontlinie verdichteten sich bleierne Gewitterwolken. Es schien so, als w;rde das Wetter an der C;te d’Azur ebenso w;ten wie die d;stere Laune des Advokaten, der am Rande eines Nervenzusammenbruchs stand.
Catard wollte rechtzeitig zum Beginn der Abendnachrichten ankommen, um die aktuellen Meldungen ;ber den Gesundheitszustand seiner Nachbarin zu erfahren.
Inzwischen posaunte man die Neuigkeiten ;ber sie auf allen Fernsehkan;len heraus!
„Mein Gott, wann krepiert dieses alte Aas denn?“, dachte Catard grimmig und stie; eine herzhafte russische Schimpftirade aus...
***
Seit langer Zeit hatte Nizza den russischen Adel angezogen. Zur formalen Ursache des erh;hten Interesses war der unschuldige ;rztliche Betrug eines ;skulapj;ngers geworden, eines ;bersiedlers aus der sonnigen Provence. Der pragmatische Franzose, der am Hof des russischen Kaisers gedient hatte, hatte dem Zaren und dessen G;nstlingen geraten, diese Gegend zu Heilzwecken aufzusuchen. Nach den Worten des listigen Mediziners, der in dieser geheimnisvollen Region geboren und aufgewachsen war, sollte das maritime Klima der C;te d’Azur angeblich die Heilung von der Schwindsucht g;nstig beeinflussen, welche zu dieser Zeit bei den Vertretern der h;heren Petersburger Gesellschaft eine ;beraus modische Erkrankung war. Nichtsdestoweniger ist die feuchte Luft an der Franz;sischen Riviera in Wahrheit verderblich f;r kranke Lungen.
Allm;hlich fiel hier massenhaft die „gebrechliche“ russische Oberschicht ein und brachte mit sich alle Hofintrigen sowie alle hauptst;dtischen Klatschgeschichten und Lustbarkeiten in das Gebiet von Nizza. Sonderbar, aber vielen Gesellschaftsl;winnen ging es hier tats;chlich viel besser, sei es, dass das Seeklima seinen Einfluss auf sie hatte, oder aber ein harmloser Kurschatten, dem sie sich hier hingaben, weit entfernt von ihren hochgestellten Ehem;nnern. Aber wie auch immer, bald begannen sie, sich in Nizza anzusiedeln, die Spr;sslinge bekannter Adelsgeschlechter und die neureichen Bourgeois, die Betr;ger und Veruntreuer, die reihenweise hierher str;mten, gemeinsam mit ihrem Anhang, ihren Lakaien, Liebhaberinnen und M;tressen. Sie setzen sich f;r lange Zeit in dieser einst r;ckst;ndigen Provinz S;dfrankreichs fest, investierten in die Entwicklung des fremden Landes enormes Kapital und verwandelten es in einen bl;henden Garten.
Dank des russischen Goldes wurde hierhin eine Eisenbahnlinie gelegt, und es wurde eine Vielzahl pr;chtiger Pal;ste und erstklassiger Hotels gebaut; errichtet wurden au;erdem Theater, Kasinos und sogar eine Kirche russisch-orthodoxen Bekenntnisses. Gewaltige russische Investitionen ver;nderten das Leben in der ;rmlichen Gemeinde bis zur Unkenntlichkeit und verwandelten Nizza in eine der modischsten Kurst;dte des Mittelmeerraums. In der n;heren Umgebung dieses wundervollen Ortes wurden Hunderte teurer Villen angelegt, zu deren Eigent;mern bekannte Clans der russischen Elite, gro;e Einnehmer von Bestechungsgeldern und Abenteurer wurden.
Als eines der elegantesten Anwesen galt die Villa des Grafen ;uvalov. Sie war in strengem englischen Stil erbaut worden und lag auf einem herrlichen gr;nen Grundst;ck, das sich ;ber einen hoch gelegenen Berghang erstreckte. Der wundervolle Park um die Villa herum war mit exotischen Blumen bepflanzt und versank in Dickichten subtropischer B;sche. Durch die gotischen Fenster dieses Schlosses bot sich eine faszinierende Aussicht auf das Meer und die buchtenreiche K;stenlandschaft der C;te d’Azur.
Irgendwann hatte der Graf in Russland eine gro;e Familie und eine Vielzahl Verwandter gehabt, doch nach der blutigen Revolution und dem Fleischwolf des B;rgerkriegs war nur seine Tochter am Leben geblieben, die so alt war wie das 20.Jahrhundert. Sie hatte Gl;ck: Sie war in Nizza geboren und verbrachte dort ihr ganzes Leben, weit entfernt von ihrer geschichtlichen Heimat. Das pers;nliche Schicksal der Gr;fin allerdings verlief auch tragisch: Sie ;berlebte ihren Ehemann, verlor ihre Kinder, und ihr einziger Enkel kam w;hrend eines Autorennens in Monaco um. Sie hatte nicht mehr geheiratet und f;hrte ihr Leben in ihrem Haus in stolzer Einsamkeit.
Ihr n;chster Nachbar war der Notar Catard mit seiner Familie. Sie waren nicht befreundet, hatten aber ein gutes Verh;ltnis zueinander. Eines Tages erfuhr Catard davon, dass die Gr;fin vorhatte, ihre Villa zu verkaufen. Er hatte schon lange davon getr;umt, dieses Anwesen zu erwerben, verf;gte aber nicht ;ber die n;tige Geldsumme. Da schlug er seiner Nachbarin vor, einen Vertrag ;ber lebenslange Unterhaltszahlung zu schlie;en. Laut diesem ;bernahm Catard die Verpflichtung, den Lebensunterhalt der Gr;fin vollst;ndig bis zu deren Tod zu finanzieren, nach welchem die Eigentumsrechte am gr;flichen Besitz auf ihn ;bergehen sollten. Der Notar hatte folgenderma;en ;berlegt: „Ich bin f;nfzig Jahre alt, aber die Gr;fin schon ;ber achtzig, und lange wird sie es offensichtlich nicht hinziehen. Daf;r werden mein Sohn und meine zuk;nftigen Enkel nach dem Tod der Nachbarin Eigent;mer dieses fantastischen Erbes.“ Nat;rlich war diese Angelegenheit f;r den Notar eine schwere finanzielle B;rde, denn auf ihm lastete die Verpflichtung, f;r die Gr;fin alle Kapitalsteuern und die Grundrente zu zahlen, und die Ausgaben f;r ihre Pflege, aber auch f;r die des gewaltigen Hauses und des Parks. Ein gesonderter Punkt des Vertrags betraf die Versorgung der Alten mit allen lebenswichtigen G;tern: Ern;hrung, medizinische Versorgung, Dienstleistungen des Arztes, der K;chin und der Altenpflegerin.
Trotz aller dieser Schwierigkeiten war der Notar ;berzeugt davon, dass das Spiel eben Kerzen kostet, wie ein russisches Sprichwort besagt.
Aber, wie die Zeit zeigte, hatte sich Catard grausam verrechnet...
Sogar im schlimmsten Traum h;tte er nicht erahnen k;nnen, dass diese klapprige Alte ein h;chstes Greisenalter erreicht und zu einer der bekanntesten Pers;nlichkeiten Europas wird. Zwanzig Jahre sp;ter hatte sich die russische Gr;fin in ein inoffizielles Symbol Frankreichs verwandelt, in ein Objekt des Nationalstolzes der B;rger dieses Landes. Jeder Franzose interessierte sich f;r den Tagesablauf und die Di;t der Gr;fin und besonders f;r pikante Einzelheiten ihrer ungew;hnlichen Angewohnheiten.
Sie bewegte sich ;ber das Gel;nde der Villa in einem Elektrorollstuhl fort, unter st;ndiger Aufsicht einer Krankenschwester und ihres Leibarztes. Die Alte hatte sich gro;artige Gesundheit, hervorragende k;rperliche Verfassung, scharfen Verstand und vorz;glichen Appetit erhalten. Ihre aristokratischen Gewohnheiten hatte sie ihr ganzes Leben lang niemals ver;ndert: Zum Mittagessen trank sie, einer strengen Regel folgend, ein paar Gl;ser Bordeaux und wiederholte diese Prozedur w;hrend des Abendessens und vor dem Schlafengehen, auf diese Weise die kostbaren Vorr;te des h;uslichen Weinkellers reduzierend. Die pers;nliche K;chin bereitete f;r sie Gerichte aus frischstem Kalbfleisch und Meeresfr;chten zu sowie kleine Imbisse aus provenzalischem K;se und Salate mit Tr;ffeln. Au;erdem liebte es die Gr;fin, sich hin und wieder mit einem seltenen Dessert zu verw;hnen, und sonntags mit einem Gl;schen russischen klaren Schnapses oder mit einem Fl;schchen exklusiven Champagners. Aber die faszinierendste Leidenschaft dieses hundertj;hrigen M;tterchens waren Havanna-Zigarren, die direkt aus Kuba bezogen wurden und ein Verm;gen kosteten. Allerdings waren alle diese Men;details im Vertrag klar vorgeschrieben, und die Vertragsbestimmungen wurden bedingungslos erf;llt.
Es ist schwer zu glauben, aber so m;rderisch das gastronomische Programm f;r ihr Alter h;tte sein m;ssen – es beeinflusste den Gesundheitszustand dieser scheinbar verzauberten Greisin nicht. Dar;ber hinaus riefen die Freiheit des Benehmens, die Exaltiertheit und die ma;lose Neigung der alten Feinschmeckerin zu Alkohol und Tabak bei den Franzosen gewaltige Sympathie und wilde Begeisterung hervor.
Und gerade daf;r hasste Catard die russische Gr;fin ;ber alles.
Der Notar war gen;tigt, f;r ihren Lebensunterhalt beinahe alle Eink;nfte aus seiner Kanzlei auszugeben, und er war schon lange verschuldet. Aber als gesetzestreuer Jurist konnte er nichts ausrichten. Die Gr;fin verletzte nicht eine Vertragsbestimmung, au;er dieser einzigen: Entschieden weigerte sie sich zu sterben.
In Gedanken hatte Catard diese alte Bestie Tausende Male ermordet: vergiftet, erw;rgt, in St;cke geschnitten und in einer hei;en Pfanne gebraten. Im wirklichen Leben allerdings konnte er sogar nicht einmal in ihre N;he kommen, da Hunderte von Augen ihrer Verehrer jede Bewegung der Gr;fin wachsam verfolgten, die Augen der K;chin und der Altenpflegerin, des Arztes und des G;rtners, und eine Vielzahl von Kameras eingeschmuggelter Journalisten.
Ihr Eifer war vollkommen erkl;rlich: Die Pflege dieses antiken Objektes aus alter Zeit garantierte dem Personal st;ndige Arbeit und gutes Einkommen...
Die Jahre vergingen: Catards Sohn wurde erwachsen und beendete die Universit;t, Catard und seine Frau schieden aus dem Leben, ohne ein f;r sie „gl;ckliches“ Finale zu erleben.
Aber die Gr;fin w;nschte kategorisch nicht, das Leben zu Ende zu bringen...
***
Catard drang buchst;blich in sein Haus ein, stellte den Fernseher an und setzte sich davor.
;ber die Flimmerkiste liefen die Abendnachrichten.
Das Erste, was er auf dem Bildschirm sah, war das wei;e, ausgetrocknete, aber ganz und gar zufriedene Gesicht seiner Nachbarin. Nach einer leichten Erkrankung, wie sie hin und wieder auftrat, f;hlte sich die Gr;fin wieder hervorragend. Heute vollendete sie das 110.Lebensjahr, und ganz Frankreich interessierte sich f;r ihre Gesundheit. An diesem bedeutenden Tag interessierte die Fernsehzuschauer, wie immer, eine delikate Frage: was die Jubilarin zu Ehren des runden Geburtstagstags a; und trank, und ob sie Havanna-Zigarren rauchte.
Catard umfasste seinen Kopf mit den H;nden und begann verzweifelt zu schreien:
„Mein ganzes Leben habe ich f;r diese alte Schlampe geschuftet! Ich habe weder Familie noch Kinder! Mein Vater hat ihren Lebensunterhalt bestritten, solange er nicht in eine andere Welt fortgegangen war, wobei er mir als Erbe nur Schulden und dieses gefr;;ige Monster hinterlassen hat! Dass du doch verrecken m;gest, verrecken, verrecken...“
Einstmals hatte sein Vater um dasselbe zu Gott gebetet. Dies war gleich nach der Unterzeichnung des Vertrages ;ber die lebenslange Unterhaltszahlung an die Gr;fin ;uvalova  geschehen.
Damals hatte der Notar den Allerh;chsten angerufen: „Herr, ich flehe Dich an: Richte es so ein, dass diese alte Hexe sich m;glichst schnell auf den Weg ins Grab macht!“
Aber der Lenker aller Schicksale ist immer taub geblieben gegen;ber derartigen Verw;nschungen.
Doch das Flehen des Notars war vom Teufel geh;rt worden, dem es behagt, sich ;ber die menschlichen Laster lustig zu machen, besonders b;sartig aber diejenigen S;nder zum Gesp;tt zu machen, die nach fremdem Gut gieren.
***
Im Oktober kehrte wieder gutes Wetter an die C;te d’Azur zur;ck.
Das Ende des Herbstes nannte die russische Gr;fin „Altweibersommer“. Nach der ;berzeugung ihrer fernen Heimat st;rkte gerade diese wundervolle Zeit russische Frauen mit Gesundheit, Gl;ck und der Gabe langen Lebens.
; Ivan Gaudi 2010 – Publikationszeugnis (russischer Originaltext) Nr. 21007161201


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