Schall und rauch

Hinweis

Dies ist eine wahre Geschichte. Einige Ereignisse fanden allerdings noch nicht statt. Aehnlichkeiten mit lebenden, toten oder fiktiven Personen sind beabsichtigt.


SCHALL UND RAUCH

Heute Abend, als ich nach der ersten oeffentlichen Praesentation meines Romans die Buecher signierte, sah ich unter Besuchern diesen Mann. Er stellte sich in die Reihe und laechelte mich an, als er sah, dass ich ihn gesehen und erkannt hatte. Ich kann kaum beschreiben, mit welcher Freude ich erfuellt war, ihn, von dem ich nicht mal den wirklichen Namen wusste, dort zu sehen, vielleicht hatte er sogar einen langen Weg hierhin machen m;ssen. Seine Anwesenheit hatte f;r mich eine grosse Bedeutung – er war derjenige, dem ich die Existenz dieses Buchs zu verdanken hatte.

Es war fast ein Jahr her. Um der winterlichen Kaelte und der Dunkelheit zu entkommen und meinen Roman zu vollenden, zog ich mich ab Mitte November auf eine kleine einsame Insel im Andamanensee zur;ck. Es gab dort ein einziges Hotel, das zu der Zeit nur halb voll war. Die Hotelanlage bestand aus kleinen Bungalows mit Palmdaechern im thai Stil, die auf dem Hotelgelaende verteilt und durch Gaenge zwischen den Grasfl;chen mit einander verbunden waren. Man hatte Menschen um sich herum und gleichzeitig genug Privatsphaere. Im Hauptgebaeude befand sich das Restaurant, die Bar und ein kleines Fitnesstudio mit einem Spa und einem Massageraum. Das Personal war freundlich und zuvorkommend, das Essen frisch zubereitet und koestlich. Ausser mir waren dort einige Taucher, die das schoene Korallenriff bewunderten und den Standort einer der wenigen Seekuehe beobachteten; und Kitesurfer, fuer die das warme Wasser, Sonne und Wind diesen Urlaubsort zum Surferparadies machten. Ich lebte an diesem Ort schon seit fuenf Wochen, gefuehlte zwei Monate, schrieb, sonnte mich, ging ins Wasser und joggte fr;h morgens lange Strecken am Strand entlang. Ich ging zum Lunch und Abendessen ins Restaurant wenn ich Hunger hatte, mein Zimmer wurde gepflegt und ich musste mich um nichts kuemmern. Ein paar Mal luden mich die Taucher ein, mit ihnen ins Meer zu gehen, allerdings konnte ich die Leidenschaft am Tauchen mit ihnen nicht teilen, ich schnorchelte nur ab und zu am Korallenriff entlang und liess mich von den Wellen schaukeln.
Wie an jedem Ort, wo Menschen eine Zeitlang auf begrenztem Raum miteinander wohnen, beobachtet man sich, begruesst einander im Restaurant oder am Strand und lernt sich ein wenig kennen. Die meisten kamen fuer eine bis drei Wochen hin, surften, tauchten und reisten ab, um n;chstes Jahr wiederzukommen. Fast alle von ihnen waren schon oefter dort.
Das Hotelpersonal organisierte eine kleine Weihnachtsfeier, die recht familiaer war, und eine groessere Feier zum Jahreswechsel. Die Gaeste sassen an den feierlich dekorierten Tischen im bunten Licht der blinkenden Lichterketten und redeten entweder ueber das Verhalten der Fische und Wasserschildkroeten, ueber Delfine und die Seekuh mit einem suessen, als sei es von einem Kind gestalteten Gesicht, oder ueber die Wellen und Orte, welche am besten zum Surfen geeignet waren. Und natuerlich ;ber Equipment: beste Taucherausruestung, Unterwasserkameras f;r einen guten Preis, Surfbretter, Kites und Neoprenanzuege.
Und genau an dem Tag, am einunddreissigsten Dezember, kam dieser seltsame Gast ins Hotel. Ich sah ihn zum ersten Mal im Restaurant bei der Silvesterfeier. Er sass etwas abseits von den anderen und redete mit keinem. Vielleicht weil er erst heute angekommen war und noch niemanden kannte. Er war hoeflich zum Personal, das ihn so begruesste, als sei er dort schon bekannt gewesen.
Ich beobachtete ihn heimlich. Er sah Billy Bob Thornton in seiner Rolle als Lorne Malvo, dem Killer aus der Serie ‚Fargo’ verblueffend aehnlich. Nicht nur aeusserlich, sondern auch in seinem Verhalten – distanziert, cool, hoeflich und irgendwie … unheimlich … wie ein dunkler Magier. Er stroemte Macht aus. Nach dem relativ kurzen, leichten Abendessen bedankte er sich und verliess unauffaellig das Restaurant, bevor die Uhr zwoelf schlug. Nach Mitternacht, als alle Gaeste einander ein frohes neues Jahr gewuenscht und ein paar Knaller in die Luft geschossen hatten, ging ich auf mein Zimmer. Ich nahm einen Umweg und genoss einen kleinen Spaziergang. Es war still. Ich hoerte nur das Meeresrauschen, Musik und froehliche Stimmen von den feiernden Menschen und dachte, wie still und warm war es fuer das gewohnte Jahreswechselgefuehl.
Und ploetzlich stand, wie eine Manifestation der dunklen Materie, aus dem Nichts erhoben, der seltsame Mann vor mir. Ich schrie fast auf, nur konnte ich es nicht aus irgendeinem Grund. Ich stand nur wie angewurzelt da und schaute ihn an. Es war zu dunkel, um sein Gesicht deutlich zu erkennen. Aber ich wusste, dass er es war.
„Haben Sie keine Angst“, sagte er, „ich tue Ihnen nichts. Ich wollte nur, wahrscheinlich wie Sie, einen Spaziergang machen“, sagte er mit einer ruhigen, tiefen, leicht gedaempften Stimme.
„Guten Abend“, antwortete ich nur, „ich wuensche Ihnen einen schoenen Spaziergang … ach! und ein frohes neues Jahr“, mein Herz schlug immer noch nicht im gewohnten Rhythmus, ich versuchte mich zu beherrschen.
„Danke, viel Glueck auch Ihnen. Passen Sie auf sich auf, die Natur ist unberechenbar.“
„Ich gehe jetzt aufs Zimmer, da ist es sicher, aber Sie, passen Sie auf sich auf.“ Ich schwoere er laechelte, als ich es sagte. Ich konnte zwar in der Dunkelheit sein Gesicht nicht erkennen, aber ich weiss, dass er laechelte. Und mich schauderte vor diesem Laecheln.
Am ersten Tag des neuen Jahres ueberlegte ich mir, ob ich zum Fruehst;ck gehen oder lieber im Zimmer bleiben sollte. Ich wollte nicht diesem Lorne Malvo begegnen. Ich hatte aber Hunger. Dann dachte ich, dass die Nacht ziemlich dunkel gewesen war und er mich vielleicht nicht erkennen w;rde. Aber wenn nicht mich, welche Frau koennte man sonst in der Nacht, besonders in dieser, alleine beim Spazieren treffen? Die wenigen anwesenden Frauen waren gepaart mit Surfern oder Tauchern. Ach, dachte ich, es ist unwichtig, ich gehe hin, und begruesse ihn einfach, wenn ich ihn dort sehe und merke, dass er mich doch erkennt. Ich hatte ihn weder beim Fruehst;ck noch beim Abendessen gesehen. Der Tag war wie alle anderen – sehr warm und sonnig, nur noch windiger als sonst. Ich zog mich in mein Zimmer zur;ck und feilte an einem Kapitel. Draussen war kaum jemand zu sehen. Der Strand sah verlassen aus, Surfer schliefen nach der langen Feier und die Taucher waren eh nie zu sehen. Bis zum Abend war es leer in der Bucht, nur zwei Kitesurfer im Meer.
Zum Jahreswechsel wurden die Tage wieder laenger. Ich genoss die Sonnenuntergaenge, die so einzigartig und unterschiedlich waren, und spaeten abendlichen Spazierg;nge bis in die Nacht, wenn es stiller und dunkler wurde, hoerte Grillen und Rufen des Gekkos zu. Der Himmel war uebersaet mit Sternen, die man in der Stadt nie so klar sehen konnte.
Diese Nacht war anders. Der Mond war fast voll und der Wind wechselte von einem milden sued-oestlichen zum boeigen suedlichen. Die Brandungswellen waren hoch und schlugen wuchtig gegen das Riff. Die Macht der Natur faszinierte mich so sehr, dass ich mich nicht lange im Zimmer aufhalten konnte. Neugier trieb mich hinaus. Vielleicht war es meine einzige Chance, dieses gewaltige Spektakel zu erleben. Ich zog eine leichte Jacke an, nahm meinen Laptop mit und ging zum Meer. Es war kurz nach halb vier. Am Strand war es fast windstill und warm, dafuer aber zog sich das tosende Meer gute fuenfzehn Meter zur;ck, so dass man das Korallenriff an einigen Stellen im Mondlicht ueber das Wasser, wie ein Knochengeruest herausragen sah. Die erste halbe Stunde sass ich an einer Klippe, ohne mich zu bewegen und schaute auf das Meer und blickte zu den Sternen. Einer davon schien hinunter zu fallen und ich sprach einen Wunsch aus. Dann klappte ich den Laptop auf und tippte diese Saetze. Der Wind wurde st;rker und die Wellen wilder. Das Meer zog sich noch ein St;ck weiter zur;ck. Diese Ebbe sah bedrohlich aus. Keine Seele war zu sehen. Was machten wohl die Fische in diesem wildschaukelnden Wasser? Zogen sie sich in die Tiefe zur;ck? Oder versteckten sie sich zwischen den Korallen?
Ich sass ganz alleine in der Dunkelheit, der Gewalt der Natur ausgeliefert, und dachte an die Warnung dieses Mannes, Natur sei unberechenbar und ich solle Acht geben, sagte er, oder so aehnlich. Ploetzlich wurde es mir so unheimlich, dass ich von der Stelle so schnell wie moeglich verschwinden wollte. Ich drueckte Apfel+S, klappte den Rechner zu, stand auf und schaute mich um. Der fast volle Mond, riesig und tief, beleuchtete die Gegend mit einem orangenen Licht. Trotz seine Groesse schien mir die ganze Umgebung dunkler geworden zu sein, meine Augen waren auf das helle Licht des Monitors eingestellt, und wenn nicht dieses unheimliche Gefuehl mich von allen Seiten in die Enge getrieben haette, waere ich ein paar Minuten ruhig sitzen geblieben und haette meinen Augen Zeit gelassen sich an die Dunkelheit zu gewoehnen. Aber der einzige Wunsch, den ich hatte, war – eine Wand hinter meinem Ruecken zu haben. Ich drehte mich nervoes, fast panisch um, niemand war da, nur das warnende Licht eines Leuchtturms irgendwo auf einer anderen Klippe, der Mond und das schwache Licht am Eingang des Hotels weit hinter mir. Kein einziges Fenster war beleuchtet, alle tauchten oder surften in ihren Traeumen. Ich beeilte mich zu diesem Licht zu gelangen, das fuer mich die letzte Hoffnung fuer heute Nacht bedeutete. Mit jedem Schritt hatte ich das Gef;hl, von einem Geist verfolgt zu werden, der immer den gleichen Abstand zu mir bewahrte, egal wie schnell oder langsam ich ging. Wenn ich ein Kind w;re, haette ich jetzt Mama gerufen, so laut ich konnte, einfach nur um mich sicherer zu fuehlen, um das Unheimliche aus mir rauszulassen. Ich wollte mich umdrehen, oder rennen, aber ich tat beides nicht. Ich entfernte mich mit gemaessigten Schritten weg von der Stelle. Und ploetzlich blieb ich stehen wie gelaehmt. Ich hoerte das grollende gewaltige Rauschen hinter meinem Ruecken und langsam drehte sich gegen meinen Willen mein ganzer Koerper zu der Stelle, wo ich eben gesessen hatte. Sie war nicht weit entfernt, nur fuenfzig Meter vielleicht.
Dort sah ich diesen seltsamen Lorne-Malvo-Mann. Ich konnte ihn an seiner Silhouette und Haltung erkennen. Er stand auf derselben Stelle an der Klippe wie ich eben, und eine riesige Welle schwoll ueber den Fels an. Ich war kurz atemlos, mein Schrei wurde ;bertoent vom Wind und Rauschen und schon ein paar Sekunden spaeter, als die Welle aufschlug, rannte ich wieder zu der Stelle zurueck, um nachzusehen, ob dem Mann nichts geschah. Ich legte den Laptop auf einer Bank irgendwo auf dem Weg ab und als ich an der Klippe war, bereitete sich das Meer fuer den n;chsten Anschlag vor. Der Mann war nicht mehr zu sehen. Hatte ich seine Erscheinung mir eingebildet oder war er weggespuelt worden? Die Zeit nachzuschauen, ob er von der Welle erwischt worden und irgendwo unten gegen den Fels aufgeprallt war, hatte ich nicht, ich koennte von der naechsten Welle genau so erwischt werden. Aber wenn ich es jetzt nicht tun wuerde, koennte er von der weiteren Welle weggeschleppt und noch schlimmer verletzt werden. Trotz aller Vernunft sprang ich zu dem Rand und da war es! Ich sah die Welle sich ueber mich erheben und schaute, wie sie in Zeitlupe, maechtig und schwergewichtig ;ber mich aufstieg, bis sie f;r einen Moment an ihrem Hoehepunkt, gekroent mit weisser Gischt, stehen blieb. Dann wurde ich nass und spuerte Salz in meiner Nase und im Rachen, meine Schleimhaeute brannten, ich bekam keine Luft. Eine Kraft, der ich nicht mal widerstehen wollte, zog mich mit. Ein Schlag gegen die wunderschoenen Korallen, die zehn Jahre f;r die zehn Zentimeter brauchen, und weiter wusste ich nichts mehr.

Ich wachte in meinem Zimmer auf dem vertrauten Bett auf, mein Koerper tat weh. Ich hatte keine schlimmen Verletzungen bekommen, nur einige Prellungen und Zerrungen. Das Gesicht war zerkratzt von Korallen und Seeigeln, dennoch fuehlte ich mich gut verarztet. Es war mir bewusst, es haette schlimmer kommen koennen – ich haette mir das Genick brechen koennen, komplett von der Welle zerschmettert werden, oder schlimmer – Knochen brechen und es waere schwierig hier in der Gegend einen guten Chirurgen zu finden. Den Horrortrip zum Festland in die naechste Stadt wollte ich mir gar nicht vorstellen.
Neben meinem Bett auf dem Beistelltisch stand eine Flasche frisches Wasser, Mangos, kleine Orangen, Bananen, Suessigkeiten und mein Laptop im Schlafmodus, dessen kleine Leuchte auf der Seite in regelmaessigen Zeitabstaenden an- und ausging. Ich trank ein Glas Wasser, lag eine Weile im Bett und versuchte mich an Details zu erinnern. Ich wusste nicht, wie ich da herausgekommen oder wie ich gerettet worden war, und was war mit dem Mann geschehen. Ich war noch schlaefrig und schwach, und wenn meine Lungen nicht vom Salzwasser gebrannt haetten, haette ich gedacht, alles waere ertraeumt. Ich versuchte sehr langsam zu atmen.
Irgendwann brachte mir Mai – die junge Frau vom Personal – eine Kokosmilchsuppe, ein gebratenes Fischfilet mit etwas Reis, Papayasalat und einen frischen Kokossnuss mit einem Strohalm.
Als ich wieder alleine war, klappte ich den Laptop auf. Das letzte Textdokument war noch immer offen. Unter den letzten S;tzen, die ich schrieb, als ich an der Klippe sass und ;ber die Silvesterfeier berichtete, stand geschrieben:
„Ich wuensche Ihnen, dass dieser Anfang das Schlimmste war, was Sie in diesem Jahr erleben duerfen. Obwohl Sie mich nicht besonders zu moegen scheinen, haben Sie versucht mich zu retten. Dafuer danke ich Ihnen, auch wenn ich die Rettung nicht noetig hatte. Ich bin wohlauf und bin sehr froh darueber, in der Naehe gewesen zu sein um Ihnen aus dem Wasser zu helfen. Was mich betrifft, finde ich ihre Beschreibung sehr amuesant, sie trifft aber nur bedingt zu – ich hege weder moerderische Plaene, noch uebe schwarze Magie aus. Ich hoffe, ich habe Sie damit nicht zu sehr enttaeuscht.
Ich wuensche Ihnen viel Erfolg mit Ihrem Roman und werde gerne, wenn es soweit ist, ein Exemplar Ihres Buches erwerben.
Name ist Schall und Rauch*. Fuer Sie Ihr Freund Lorne Malvo.“

*Johann Wolfgang von Goethe, “Faust”


Рецензии
Рада, что могу прочитать твои истории в оригинале. И опять у меня есть в запасе ассоциация: "Человек в коричневом костюме" Агаты Кристи, а, вернее, экранизация этой ее истории.

Гартман Анна   17.10.2016 17:52     Заявить о нарушении
Привет Анна! А я то как рада, что ты читаешь! С этим рассказом я ещё посижу дольше, чем ожидала. Перевод почему-то даётся сложно. Но ничего, и сним справлюсь ;)

Саша Киселькова   18.10.2016 01:55   Заявить о нарушении
Конечно, справишься :) а что было в продолжении истории? Вы все-таки познакомились поближе?

Гартман Анна   18.10.2016 10:40   Заявить о нарушении
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