Altorthodoxe Pomorische Kirche und ihre Legitimita

Verfasser: Alexej Lugowoj

Definition
Womoeglich wird sich der Leser des vorliegenden Aufsatzes fragen: „Altorthodox? Pomorisch? Ist hier die Rede von Kirche? Und genau diese Fragen sind legitim und beduerfen einer Erklaerung.
Um eine plausible Definition der Bezeichnung dieser Kirchengemeinschaft zu geben, sollte man bereits hier einen kurzen Rueckblick in die Geschichte der russischen Orthodoxie geben, naemlich ins 17. Jahrhundert. Vor fast 400 Jahren wurde der zweite Repraesentant der Romanow-Dynastie, Alexej Michajlowitsch, russischer Zar. Im Volk hatte man ihm den Beinamen „Tischajschij“ gegeben, was so viel wie „der Ruhigste“ bedeutet. Politisch stand Alexej Michajlowotsch vor vielen ungeloesten Fragen, die ihm sein Vater Michail Fedorowitsch hinterlassen hatte, das groesste von denen die Eroberung der Stadt Smolensk und der Ukraine durch die polnisch-litauischen Besatzungstruppen war. Die Aufgabe des Zaren war es diese Gebiete zurueck zu nehmen.
Auf der kirchenpolitischen Ebene brachte dieses Problem ein grosses Dilemma. Die in der Zeit der polnisch-litauischen Besatzung ukrainischen Gebiete standen unter der Jurisdiktion der katholischen Kirche. Einige Bistuemer nahmen das paepstliche Angebot der Brester Kirchen-Union an und wurden griechisch-katholisch. Andere Landesregionen bezeugten weiterhin die russische Orthodoxie, die allerdings nicht im ganzen Russischen Reich in ihrer Gottesdienst-Ordnung identisch war. Die orthodoxen ukrainischen Gebiete, die jedoch von der russischen Kirche zwangsweise abgeschirmt waren, richteten sich in ihren Liturgie-Bestimmungen und Kasual-Praxis nach Konstantinopel statt Moskau. Im Kosaken-Aufstand von 1648-1657 unter der Fuehrung von Bohdan Chmelnyzkyj sah der Zar die Moeglichkeit seinen Territorialanspruch mit sehr gut vorbereiteter militaerischer Operation zu realisieren und Smolensk sowie die Ukraine zurueck zu erobern. Fuer den Zaren selbst, dem dieses Vorhaben erfolgreich gelang, war es nicht in erster Linie wichtig der ganzen Landesbevoelkerung eine einheitliche Gottesdienst-Ordnung anzuzwingen. Nicht jedoch fuer seinen engsten Ratgeber, den Patriarchen Nikon. Dieser Patriarch traeumte vom oekumenischen Patriarchat unter der Oberherrschaft Moskaus als dem „Dritten Rom“. Nikon schlug dem Zaren vor eine Kirchenreform durchzufuehren, die vor allem die Revision der liturgischen Buecher, spaeter auch die Vereinheitlichung der Gottesdienst-Ordnung und Kasual-Praxis mit denen von Konstantinopel einschloss. Die ukrainischen Kirchen, die schon seit langem diese neue Ordnung uebernahmen, dienten dem Patriarchen Nikon als das Vorzeigebeispiel fuer den Zaren und sollten auf den aussichtsvollen Erfolg des Vorhabens hindeuten. Diese Neuerungen fuer das Kirchenleben in Russland muendeten im Moskauer Konzil von 1666-1667, bei dem die neuen Kirchenbestimmungen manifestiert und die alten abgeschafft und unter Anathema verurteilt wurden. Genau dieses Konzil loeste die groesste Kirchenspaltung in der Geschichte der russischen Orthodoxie aus und teilte die russischen Glaeubigen in diejenigen, die den Neuerungen folgten und, die, welche den „alten“ Glauben bezeugten. Genau aus dieser geschichtlichen Perspektive muss man die Vorsilbe „alt-“ in der Bezeichnung der Altorthodoxie verstehen.
 Gewoehnlich stellt man sich die geschichtliche Entwicklung von Schisma als eine Vektorrichtung vor. In so einem Fall waeren nach der Spaltung aus einer Kirche zwei entstanden, die unterschiedliche Entwicklungen erleben, unterschiedliche Hierarchien bilden, die Mahlgemeinschaft miteinander unterbrechen wuerden. Und dies alles trifft auch auf den Raskol zu. Nur beim Raskol, dessen Geschichte wir nun seit fast 400 Jahren nachverfolgen koennen, sieht man auch eine Spaltung in sich. Es gibt eben nicht nur die eine Raskol-Kirche, sondern eine Vielzahl von den so genannten Soglasija.1 Diese separaten christlichen Kirchengemeinschaften entstanden infolge von Verlust der kirchlichen Hierarchie, Verfolgungen seitens der „reformierten“ staatlichen Kirche. Die Verfolgungen brachten die Altglaeubigen dazu aus dem staatlichen Zentrum zu fliehen. Aus diesem Grund blieben sie zun;chst Jahrzehnte lang voneinander abgeschottet bis sie eigene geistliche Zentren an der Peripherie des Zarenreichs bilden konnten. Die vier wichtigsten Zentren entstanden nach jahrzehntelanger Verfolgung und Flucht in Pomorje (am Weissen Meer), am Kerzhenec (Nebenfluss der Wolga), in Starodubje (westlicher Teil Russlands) und Sozh (Nebenfluss des Dnjepr in der Drei-L;nder-Region: Russland, Weissrussland und Ukraine). Diese vier Richtungen bezeugen, dass sich innerhalb der Altorthodoxie bereits im XVIII Jahrhundert unterschiedliche theologische Entwicklungen, Kasual-Praxis, Lehrmeinungen, Gottesdienstordnung vollzogen. Wenn man die Geschichte des Alten Glaubens weiterverfolgt, wird man diese Spaltung in weitergehend unterschiedlichster Auspraegung sehen koennen. Es entstanden weit mehr als vier Soglasija. In letzter Zeit konnte man aufgrund der Aussichtslosigkeit der zahlenmaessig kleinen Soglasija bzw. des Verfalls vieler kleiner Gruppierungen in Haeresien einen Rueckgang des Spaltungsprozesses beobachten. Heute kann man von vier grossen Altglaeubigen-Gemeinschaften sprechen, zwei von denen eigene voneinander unabhaengige priesterliche Hierarchien ausbildeten (Popovcy),4 andere zwei jedoch als Laien-Kirchen existieren (Bespopovcy).5 Bei der Altorthodoxen Pomorischen Kirche geht es um die Nachfolgekirche der einst im Gebiet nahe des Weissen Meeres am Fluss Vyg (Gebiet: Pomorje) gegruendeten Gemeinschaft der priesterlosen Pomorcy.6

Der Charakter der pomorischen Gemeinschaft am Vyg
     Die Betrachtung der priesterlosen Gemeinschaft der Pomorcy am Fluss Vyg, ist deshalb von Bedeutung, weil es in dieser Gemeinschaft viele gebildete Moenche gab, die sich, nach der Eroberung und Zerstoerung des Klosters von Solovki, dort anfangs als Einsiedler niedergelassen haben. Organisationsstrukturen brachten dorthin die Brueder Denisov,7 unter klarer geistlicher Fuehrung des aelteren Bruders Andrej. Die Brueder Denisov gehoerten zu einer russischen Fuerstenfamilie Myschezkij und waren eine der wenigen Adelsfamilien, die kirchliche Neuerungen nicht annahmen und sich dem Alten Glauben zugehoerig fuehlten. Andrej Denisowitsch Myschetzkij (in der Kirchenliteratur der Altglaeubigen bekannt als Andrej Denisov) bildete in der neu gegruendeten Kirchengemeinschaft eine autoritative Grundlage durch seine polemisierenden und apologetischen Schriften. Die Gemeinschaft, die durch die Vielzahl der Moenche nach der Art einer kloesteraehnlichen Koinobiten-Gemeinschaft fuer Maenner organisiert war, gewann in den umliegenden Territorien, aber auch in der Gesellschaft, langsam und sicher an Autoritaet. Im 30 Kilometer entfernten Gebiet des Leksa (Nebenfluss des Vyg) entstand eine aehnliche Siedlungsstruktur fuer Frauen, die spaeter als Leksa-Kloster bekannt war, unter geistlicher Fuehrung der aelteren Denisov-Schwester Solomonija, die ihren juengeren Bruedern in der Leitungsfunktion stets zum Rat stand.8 Der langsame Prozess der Anerkennung dieser beiden Kloester, die gemeinsam als Vyg-Leksa-Gemeinschaft (russ.: Vygo-Leksinskoje obshchezhitel‘stvo) bekannt wurden, ging einerseits ueber grosse Stolpersteine, andererseits etablierte sich dadurch diese Gemeinschaft in der Nordregion des Russischen Reiches waehrend der Regierung des Zaren Peters I.
     Dieser langwierige Anerkennungsprozess brachte seitens der Pomorcy eine aussergewoehnlich autoritative Glaubensschrift hervor, die „Pomorischen Antworten“, unter Verfasserschaft von Andrej Denisov, und muendete in der gesellschaftlichen Toleranz gegenueber den Altglaeubigen, die in der westlichen Avvakum9-Forschung als „counter-culture“ 10 bezeichnet werden koennen.


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