Wo Milch und Honig fliessen
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Wieder oeffne ich den Kuehlschrank. Zum vierten Mal in dieser Nacht. Das kann doch jeder Frau mal passieren, nicht wahr? Jede von uns ist schon mindestens einmal in ihrem Leben in der Nacht aufgestanden, um etwas Leckeres zu essen. Das Ritual der Selbsttaeuschung beginnt immer damit, dass Frauen mit einem Riesenhunger zu Bett gehen und sich dabei schon auf den naechsten Morgen freuen, wenn sie sich wieder satt essen koennen. Und in der Nacht... Wer sieht uns schon in der Nacht! Ab und zu kann man die Versprechen auch brechen, die man sich selbst gegeben hat. Denn es gibt im Leben einer Frau ohnehin zu viele Verbote, die all zu oft mit dem Essen verbunden sind.
Ich ueberfliege die Verpackungen und Markenaufkleber auf den Produkten, die ich kuerzlich gekauft habe. Becher, Paeckchen, Dosen. Und alles ist so lecker.
Von gestern ist noch ein bisschen Quark uebrig. Irgendwo in der Kuehlschranktuer stand Schokocreme... In einem der Faecher sehe ich einen angetrockneten Klecks gezuckerter Kondensmilch. Trotz der suessen Versuchung sehnten sich meine Geschmacksknospen nach etwas Beerigem. Zum Beispiel nach der Johannisbeermarmelade, die mir meine Freundin Lera kuerzlich brachte. Sie verteilt oefter Selbstgemachtes von der Datsche. Ihren Grossvater kannte ich sehr gut und besonders sein Mitgefuehl fuer die Stadtbewohner. Ehrlich gesagt, schien mir die Arbeit im Garten die Herkulesaufgabe eines unverbesserlichen Altruisten zu sein, der all die suendigen und mageren Leiber naehren wollte. Daher genoss ich die Ernte, ohne mich mit den Einzelheiten der Gartenproduktion zu belasten.
Mit dem sicheren Gang einer Schlafwandlerin ging ich zum Schrank, wo das Glas Johannisbeermarmelade versteckt war. Es war nicht so einfach, es zu finden, denn es war tief im Schrank unter einem Stapel Kleider und leeren Schuhkartons versteckt. Ich musste buchstaeblich abtauchen in das wunderschoene IKEA-Moebel. Gefunden! Oder besser gesagt, ich ertastete es. Langsam richte ich mich auf, das Nachthemd platzt fast aus den Naehten. Im naechtlichen Dunkel – ich fuerchte und erschrecke mich fast vor mir selbst – drehe ich den Deckel, bis ein leises, aber bestimmtes Knacken ertoent und das Glas sich oeffnet. Vor Aufregung laufen mir Schauer ueber den ganzen Koerper und der Schweiss bricht mir aus. Ich halte das Glas unter meine Nase, um den wunderbaren Duft der Marmelade zu geniessen. Sie riecht nach Dorf, Grossvater, Schrankstaub und Beeren. Es ist der Geruch einer besonderen Speise. Einer natuerlichen, fuer Koerper und Seele gesunden Speise.
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Uhhhwwrrrr….. Wer hat sich eigentlich diesen verdammten Wecker ausgedacht?! Die regelmaessige Beziehung zu diesem Geraet fuehrt mich beinahe in einen Nervenzusammenbruch, bringt mich fast zum Weinen. Ich waelze mich hin und her und mache ein paar Rollen um dreihundertsechzig Grad, um ganz aufzuwachen.
Ich erinnere mich, wie sich meine Lippen im Traum mit etwas heiss Ersehntem vereinigten, wie Maiblumen in meinem Bauch bluehten und meine Augen begeistert ergluehten. Beim blossen Gedanken daran, wovon ich gerade noch getraeumt hatte, breitete sich die Suesse in meinem Mund aus. Die sanft knuspernden Pfannkuchen traeufelten Bienennektar auf meine Handflaechen. Heisser Honig floss ueber meine Finger, malte Schweizer Fluesse und Wasserfaelle auf meine Haende. Er brannte leicht auf der Haut, leuchtete jedoch so schoen und sanft wie die Morgensonne auf Lerkas Datscha. Ich kuesste die feuchten, klebrigen Spuren der Honigfluesse. Ohne Eile leckte ich die trocknenden Zuckerspuren ab. Ich biss noch einmal in den Pfannkuchen und die Tropfen der Honigfontaene trafen erneut meinen Mund, meine Wangen, die Finger und meine Brust, auf welche goettlicher Bernstein tropfte.
Nachdem ich die Erinnerungen an die Erlebnisse im Traum genossen hatte, kroch ich irgendwie unter der Decke hervor und erreichte in einer unbeholfenen, eher einem Sturz aus einem Boot gleichenden Bewegung meine weichen flauschigen Hausschuhe, die ich am Vorabend fuer mich bereitgestellt hatte.
Ich ging am Bad vorbei und naeherte mich langsam der Kueche. Oh Gott, was sah ich dort! Auf dem Tisch lagen Kruemel von Keksen und Brot, ueberall waren dunkle Kleckse einer klebrigen Substanz, die an den Hausschuhen haftete. Eine geheimnisvolle Fluessigkeit mit kleinen Kernen erinnerte verdaechtig an Lerkas Marmelade, die sie mir kuerzlich geschenkt hatte und welche sicher im Schrank unter Verschluss gehalten wurde.
Die Haende der Verzweiflung, Beschaemung und des aergers legten sich um meinen Hals. Hatte es jemand gewagt, das glueckselige Paradies der Ordnung und Sauberkeit zu zerstoeren?! Wer?!… Das Fluestern der Vernunft lenkte meine Aufmerksamkeit auf meine Haende; unter den Naegeln hing getrocknete Marmelade. Allem Anschein nach war es genau die gleiche, wie die auf dem Tisch und dem Boden. Sollte ich mein Versprechen erneut gebrochen haben? Nein, das konnte ich nicht. Etwas stimmt hier definitiv nicht. Jemand musste das Glas geholt, meine Kekse gegessen und meine Haende mit Marmelade beschmiert haben, um den Verdacht auf mich zu lenken und mein Gewissen zu beflecken. Wie gemein das doch ist! Mitten in der Nacht einen suess traeumenden Menschen zu beschmieren, der eine solche Untat ueberhaupt nicht bemerkte!... Ich muss mich irgendwie schuetzen. Zumindest sollte ich versuchen, den alten Riegel, der noch von Omas Datscha stammt, zwischen die Griffe der Schranktueren zu schieben.
Gegen diesen Schock und den schlaefrigen Koerper hilft nur eine beherzte Portion meines geliebten Muntermachers – Kaffee. Welch sanftes Wort. Es ist so schoen, es auszusprechen. Versuchen Sie einmal, den Klang des "a" ganz langsam und genuesslich zu dehnen, die einstroemende Flut und das kaum hoerbare Gurgeln des Speichels zu geniessen, die leichte vibrierende Beruehrung der Unterlippe und der Zaehne bei der Geburt des weichen Lautes "fff" auszukosten und endlich das Wort "Ka-a-fff-ee" auszusprechen...
Ich vermisse meine Reise nach Nizza ein bisschen, als ich jeden Morgen zu dem kleinen Cafe lief, das um sieben Uhr dreissig morgens oeffnete, drei frisch gebackene Croissants kaufte, mich an den Tisch setzte, um die fettdurchtraenkte Papiertuete zu oeffnen, in der die ganze Bestellung ordentlich verpackt wurde. Mir fehlt der Duft von Wohlbefinden und Lebensfuelle. Mir fehlt das lustige Knuspern, die Kaffeeflecken auf dem Tisch und die suedfranzoesische Sonne auf meinem Gesicht und meinen behaglich geschlossenen Augen.
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Ich wohne allein in einer gemuetlichen Wohnung, die ich mir selbst erarbeitet habe. Meine eigenen massiven Waende, ein teures Eichenbett, eine wertige Kueche. Durch die Fenster zieht es nicht.
Trotzdem ist es manchmal sehr trostlos, meine Tasse Kaffee oder mein Sandwich einsam zu mir zu nehmen... Mir scheint, dass das Fruehstueck noch leckerer und saftiger waere, wenn ich mit jemandem zusammen le Petit Mort des Magens geniessen koennte und den Hoehepunkt der Erregung und die voellige Befriedigung der Leidenschaften erreichen wuerde.
Ich hatte natuerlich einige romantische Geschichten in meinem Leben, an die ich mich manchmal erinnere. Wir assen in der Mensa, auf einer Bank im Park oder am Schnellimbiss stehend. Dann folgte das gemeinsam-ins-Cafe-gehen-Stadium, aber ueber diese Form der Annaeherung ging es nie hinaus. Manchmal waermten wir uns zu Hause etwas von meiner fuersorglichen Mutter Gekochtes auf. Jetzt kocht niemand fuer mich, ich wohne schon lange allein.
Deutlich erinnere ich mich nur noch an die Beruehrung des weichen Koerpers meines letzten Schwarms. Meine Finger waren leicht in seinem Relief vergraben, das einem Apfelkuchen aehnlich war, der in einer Form im Ofen gebacken wurde. Sein Koerper war genauso warm und weich. Sein Geruch war suess und frisch. Es war angenehm, seine vollen und immer etwas feuchten Lippen zu kuessen. Ich kenne diesen Mann durch seinen Geschmack. Er war der Suessstoff in meinem Tee, der Puderzucker auf meinem Krapfen, die Creme in meinem Eclair. Ich badete in der Liebe aus Konfekt. Aber allmaehlich wurde er fuer mich immer zaeher und fader, wie ein Kaugummi, der als ueberraschungsfuellung in einem suesssauren Bonbon versteckt ist.
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"Isst du heute nichts?!"
Meine Kollegin zog ihre Augenbrauen so weit hoch, wie es ihre ueber die Jahre ein bisschen schlaff gewordene Haut erlaubte. Die anderen Maedels sahen mich auch mit Entsetzen an, was buchstaeblich an ihren Augen abzulesen war. Trotz der Tatsache, dass ihre Mimik durch Botox-Spritzen eingeschraenkt wurde, konnte mir ihre ueberraschung nicht entgehen.
"Ich bin wieder auf Diaet", log ich.
Ich werde ihnen doch nicht erzaehlen, dass ich diese Nacht wie eine allesfressende Termite, ohne Angst und Hemmungen, ohne moralische Barrieren alle meine selbst gegebenen Versprechen und Schwuere verletzt hatte. Ich schaemte mich immer noch unendlich fuer die Kruemel auf dem Kuechenboden. Als ob ich ein kleines Verbrechen gegen mein eigenes Gewissen begangen haette. Und nach den Worten meiner Freundinnen achten sie schon seit Schulzeiten auf ihre Figur. Ob das wahr ist oder nicht laesst sich kaum mit absoluter Sicherheit sagen, weil Frauen oft das sagen, woran sie selbst gerne glauben moechten. Sie treiben nicht so oft Sport, wie sie behaupten. Manchmal erzaehlen sie ihren Freunden, dass sie heute Abend oder am Wochenende im Fitnessstudio total beschaeftigt sind, aber sie kommen einfach nicht dazu, weil sie nur noch kurz eine Stippvisite im Modegeschaeft mit zwanzig Prozent Rabatt machen.
Vor jeder neuen Freundin setzen wir ein neues Gesicht auf, um uns selbst zu beweisen, dass die Frau in uns lebt und alle Kennzeichen des schwachen Geschlechts hat. Wenn Maenner wuessten, was die Nulldiaet oder zumindest der Verzicht auf Suesses, Gebaeck und Salziges einem abverlangt, waeren sie kaum darauf gekommen, uns schwach zu nennen.
"He, warum antwortest du nicht?"
"Entschuldige, ich war ganz in Gedanken. Was hast du gesagt?"
"Wir haben uns jede einen Salat bestellt. Und du isst heute ueberhaupt nichts. Du riechst nach Kaffee. Ist das ein neues Ernaehrungsprogramm? Kaffee zum Fruehstueck und nichts mehr bis zum Abend? Wir haben doch vereinbart, uns nichts zu verbieten, aber dafuer nach dem Joghurt um halb sechs bis zum Morgen nichts mehr zu essen. Wir sollten uns gegenseitig unterstuetzen und uns nicht von den anderen distanzieren. Stimmt doch, Maedels?"
"Natuerlich! Gestern hat die Sekretaerin Rita mit ihren Erfolgen geprahlt und erzaehlt, wie sie es schafft, fit zu bleiben. Also sollten wir auch nicht zurueckbleiben. Du hast doch gesehen, wie unser Chef ihr schoene Augen macht. Es ist nicht zu uebersehen, dass ihm das Wasser im Mund zusammenlaeuft, wenn er sie sieht. Ehe man sich`s versieht, wird sie eine leitende Assistentin. Und wir? Wir wollen auch eine Befoerderung. Wir bekommen nicht nur fuer den Verstand etwas vom Leben, sondern auch fuer die schoenen Beine und schlanken Finger."
Es sind immer die gleichen Themen. Ich wuenschte, ich waere ueberhaupt nicht zu diesem Mittagessen gegangen. Offensichtlich sehe ich mit meiner Flasche Mineralwasser wie eine Heldin aus, was meine Kolleginnen neidisch macht, die auf den Genuss nicht verzichten koennen, reichlich zu essen. Salatblaetter, Mayonnaise, Brotwuerfel, fettige Haehnchenscheiben – und das alles ist in grossen Mengen. Mit schneller Hand zubereitet, grob und ohne Liebe angerichtet lag der Salat auf dem Teller einer jeden Teilnehmerin unserer Mittagsgesellschaft. Das Essen ist nicht nur ein ueberlebensmittel, nicht nur die fuer den Organismus notwendige Energie auf einer Gabel oder in einem Loeffel, die durch Kauen und Verdauen gewonnen werden kann.
"uebrigens, habe ich anderthalb Kilo in einer Woche abgenommen."
"Echt jetzt?!"
Ihre Gespraeche erreichten meine Ohren wie aus der Ferne. Die Rekorde meiner immer abnehmenden Freundinnen interessierten mich kaum. Ich erinnerte mich nur an meine langjaehrigen traurigen Erfahrungen mit dem Versuch, uebergewicht zu verlieren, das ich nach meinem Dafuerhalten hatte. Als ich mir eine Abneigung gegen Essen beibrachte, geriet ich in einen Zustand tiefster Depression, wodurch ich fast zwoelf Kilo abnahm. Ich sah natuerlich makellos aus, aber nachdem ich beschlossen hatte, dass ich wieder ich selbst werden duerfte, erreichte ich schnell die alten Zahlen auf der Waage.
"Hast du es mal mit speziellen Strumpfhosen versucht?"
"Meine Unterwaesche korrigiert mich auch gut."
"Nein, die Schenkel und Hueften strafft sie ueberhaupt nicht."
"Ab morgen – Sport!"
"Richtig, Maedchen! Sonst wird man uns ausziehen und was wird man da erblicken! Man muss sich nicht bloss eine List erdenken, sondern auch den Koerper richtig in Form bringen."
"Hoert mal, habe ich Zeit, noch Saft zu kaufen…?"
Die Diskussionen ueber Diaeten, modische Sportuebungen, das Privatleben des Chefs und die neue durchscheinende Bluse der Sekretaerin ist eine Art Kommunikationsritual fuer Frauen in der Bluete ihrer weiblichen Kraefte, die darauf abzielen, die allgemeine oder vielmehr die maennliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wie aus einer Sanduhr rieselte die Zeit auf ihre Fuesse und verlangsamte ihren Lauf und Lebensrhythmus. Sie widmeten ihre ganze fruehe Jugend dem Streben nach Wissen und Titeln, um den groesstmoeglichen Erfolg beim Start ins Berufsleben zu erzielen. Sie kuemmerten sich nicht um die Figur, Haare und Naegel, sondern um die vielversprechendste Verteilung von Faehigkeiten und Moeglichkeiten, um sich einen Platz im Unternehmen zu sichern. Nachdem sie die erforderlichen Jahre an der Universitaet studiert und Weiterbildungskurse absolviert hatten, erreichten sie ihre besonderen Positionen im Buerodienst. Irgendetwas verhinderte jedoch weitere Fortschritte. Es fehlt ihnen an menschlichem Charme oder persoenlichen Eigenschaften, die die berufliche Entwicklung foerdern, oder weibliche Attraktivitaet und Anziehungskraft, die immer so unwiderstehlich auf die Kunden und den Chef wirken.
Ich muss zugeben, dass zwei von uns, Marina und Irina, sich von ihrem ersten Tag im Buero an merklich gemacht haben. Sie sind schlanker geworden, laecheln mehr, kleiden sich ausschliesslich in modischen Farben und Styles, ihre Haut kennt seit langem keine Pickel mehr und ihre Stirn keine Falten. Sie haben genug Geld. Sie hoerten auf, in ihre Bildung zu investieren, und geben nach ihren Worten zwei Drittel ihres Einkommens fuer Vergnuegen und Privatleben aus: Schoenheitsbehandlungen, Spa, gut zubereitetes, aber kalorienarmes Essen in teuren Restaurants und Sport mit einem attraktiven Trainer im Fitnessklub.
Das alles ist nur ein Spiel fuer mich. Das Haus fuer eine Barbie-Puppe mit einem Hollywood-Laecheln, einer grossen Brust und unrealistisch duenner Taille. Barbie... mit einem genauso breit laechelndem Ken. Ein Barbie-Mann an ihrer Seite ist das Hoechste der weiblichen Fantasie und Bestrebungen. Ein Mann ohne Gefuehle, der ein huebsches Gesicht und einen Waschbrettbauch hat und Sauerstoffcocktails trinkt. Ken, der am Wochenende mit seinen Freunden aufs Land einlaedt und abends langlebige Kerzen anzuendet und ein romantisches Abendessen zubereitet...
Drei Tische von uns entfernt sass eine kraeftigere, rotwangige Frau mittleren Alters. Es war offensichtlich, dass ihr Leben - genauso wie ihr Bauch und ihre Oberschenkel - erfuellt war. Sie biss genussvoll in ihr Sandwich. Aus dem mit Zutaten vollgestopften Bereich zwischen den Broetchen fielen mit Ei-Mayonnaise beschmiert Salatstuecke heraus, die einfach nicht mehr hineinpassten. Knusprige Brotkrumen sammelten sich in ihren Mundwinkeln. Sie kaute so koestlich, als wuerde sie ihr Broetchen anlaecheln, und freute sich ueber das lang ersehnte Mittagessen.
Ich wurde sogar irgendwie eifersuechtig, dass ich mich nicht dazu durchringen konnte, das Leben so zu geniessen, wie es die Epikureer propagierten. Ich bin nicht unabhaengig von gesellschaftlich-sozialen Bindungen und den Meinungen von Freundinnen. Ich werde zwischen den kontroversen Standpunkten meiner Grossmutter und moderner junger Frauen zerrissen.
Aber ich moechte doch ich selbst sein.
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Ich gehe langsam aus der U-Bahnstation und geniesse den Heimweg. In ein paar Minuten werde ich meine Festung betreten und mit meinem Geheimnis und meiner inneren Welt allein bleiben.
Das gemessene Klopfen des Absatzes erzeugt ein entferntes Echo in den Ohren. Der Asphalt ist vom Abendregen voellig nass. Er peitscht seine schraegen Pfeile direkt ins Gesicht, waescht die Wimperntusche von meinen Wimpern ab, die irgendwo unter den Augen verlaeuft. Es war klar und sonnig am Morgen, so dass es mir nicht in den Sinn kam, einen Regenschirm mitzunehmen. Aber nicht alle waren so leichtsinnig: die Strasse war mit schwarzen Pilzen uebersaet, die nach Hause rannten. Sie haben einen besonderen Charakter – sie sind umsichtig und allwissend. Solche Menschen koennen immer alle Haushaltsfragen loesen, die in ihrem Leben oder im Leben ihrer Verwandten und Freunde auftreten Man kann jedoch kaum behaupten, dass sie die Gesetze der menschlichen Natur erkannten.
Es wird merklich dunkel. Die Leute haben es eilig, so schnell wie moeglich in ihre warmen Wohnungen zu kommen, und mummeln sich gegen den Gegenwind tiefer in ihre Jacken ein. Und ich trage bereits einen warmen mit Schafwolle gefuetterten Mantel. Er waermt mich so sehr, dass mir sogar ein bisschen heiss wird, sodass ich meine Schritte nicht beschleunige, um nicht zu schwitzen. Die Leute, die hinter mir gingen, ueberholen mich. Ich bleibe die Letzte in dieser Menge und entferne mich immer weiter von ihr, oder sie entfernt sich von mir. Die Lichter des Flugzeugs ziehen ueber mir hinweg, zuerst ertoent das Echo des droehnenden Luftfahrzeugs, dann wird es immer leiser.
Ploetzlich erinnere ich mich, dass ich seit gestern fast nichts mehr zu essen zu Hause habe, oder zumindest etwas, um den Hunger zu stillen. Im Kuehlschrank gab es nur Sossen, Kartoffel-Gurken-Salat aus der Fertiggerichte-Abteilung und ein Stueck Butter. Und es gab auch ein Glas Marmelade im Schrank. Ich beschleunigte meine Schritte und aenderte meine Bewegungsrichtung scharf nach rechts.
Der Supermarkt befand sich hinter dem Nachbarhaus, sein Schild war hellrot, und die Fassade war von einer Plastikfototafel mit einem sich staendig wiederholenden Bild dreier Tomaten umgeben. Im Inneren waren Regale, die nicht fuer eine solche Menge von mittelklassigen Lebensmitteln geeignet waren, und Staus in den Gaengen wegen der Einkaufswagen und der sich an sie klammernden ruppigen Frauen, die sich um die Ernaehrung ihrer Familien sorgten und sich im engen Verkaufsraum herumstiessen.
Im Keller des Supermarktes gab es einen kleinen Laden mit exotischem Obst, Gemuese, frischer Milch und Milchprodukten von einem nahen Bauern, Getreideprodukte, Gewuerzen und einem netten dicklichen Verkaeufer, der eure Einkaeufe liebevoll in Papierboegen verpackte.
Ebendahin wandte ich meine Schritte. Es gab dort nur wenige Kunden, alle laechelten, und wenn sie versehentlich zusammenstiessen oder nach demselben Apfel griffen, war dies keine Ursache fuer Streit und Zwietracht. Es entstand bloss eine lustige Situation, ueber die man nur lachen konnte. Eine solche wohltuende Atmosphaere der voelligen Akzeptanz wurde von den Stammkunden des Ladens geschaffen. Von den Menschen, die mit ihrem Leben zufrieden und bereit sind, etwas mehr zu zahlen. Dazu gehoerten Feinschmecker, die den Geschmack eines guten Produkts kennen und schaetzen; Koeche, die spezielle Zutaten mit den richtigen Geschmacksnoten benoetigen; Anhaenger eines gesunden Lebensstils, die sich Supermaerkten und Massenware gegenueber argwoehnisch verhalten; ebenso wie diejenigen, die in die Schoenheit des natuerlichen Aussehens von Obst oder Gemuese verliebt sind und Essen als Kunst betrachten.
Der Laden bestand aus einem fluraehnlichen Raum und zwei kleinen Hallen. Am Eingang befinden sich die Kasse und Regale mit Gewuerzen und Getreideprodukten. Ich ging weiter in den Raum hinein und atmete den Geruch der prallen Schalen von Nektarinen und aepfeln, Tomaten und Pflaumen ein. Im allerletzten Raum stand ein hoher Holztisch, auf den der Ladenbesitzer mehrere mit Beerensaft bekleckerte Koerbe stellte. Mein Blick fiel auf einen kleinen Korb mit Hagebutten. Roetlich-feurige Beeren, sauer, mit vielen Vitaminen. Zwar kann kaum eine unvergleichliche Freude daran haben, aber ich wollte etwas fuer mich Stadtbewohnerin Ungewoehnliches kaufen.
Ich fuellte eine kleine Plastikschachtel mit ein paar Beeren und nahm eine kleine Flasche frisch gepressten Orangensaft aus einem Kuehlschrank, der sich neben dem Tisch mit Koerben befand. Ich weiss, dass Hagebutte einen suess-sauren Geschmack hat und man im Fruchtfleisch manchmal auf bittere Kerne stoesst.
Die Geschmacksvielfalt, die sich in meiner Vorstellung ergab, weckte die Gefuehle und hob die Stimmung. Ich zahlte an der Kasse, die eher einem improvisierten Annahmepunkt fuer Mitgliedsbeitraegen aehnelte, obwohl die Kassenzettel der Kaeufer in der Regel grosse Summen aufwiesen.
Meine Schachtel mit Hagebutte war ordentlich in grau-braunes Papier eingewickelt, die Rolle mit einer Flasche Saft wurde in eine Papiertuete gesteckt, deren Ende sorgsam zusammengerollt wurde und das ganze Arrangement war mit einem Hefter zusammengetackert. Wie es scheint, werde ich meine Einkaeufe zu Hause wie Weihnachtsgeschenk auspacken.
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Ich legte ein paar Beeren in eine Teekanne, goss kochendes Wasser darueber, fuegte einen Loeffel Honig hinzu – und lasse es ziehen. Die im Laden gekaufte Saftflasche war fast leer, aber die Naehrstoffe fehlten meinem Koerper eindeutig – ich hatte einen Baerenhunger. Ich runzelte leicht die Stirn und kaute die Beeren, die von dem fuer die Verdauung und die Immunitaet foerderlichen Sud uebrigblieben. Sie waren so knackig-fest, dass die Haut beim Beissen der Frucht im Mund mit einem Knall aufbrach und der Saft an meine Backe oder den Gaumen schoss. Unter der Zunge wurde sofort Speichel produziert, um den sauren Geschmack der Beeren zu neutralisieren.
Ich vergass das gesunde Essen und machte einen verzweifelten Versuch, mit Salat von gestern satt zu werden, den ich bei der Arbeit gekauft hatte. Ich ass ihn ohne jedes Vergnuegen. Die Kartoffeln waren halbroh und die Gurkenscheiben sahen wie kleine gruene Radiergummis aus. Genauso gummiartig und geschmacklos.
In mir stieg wieder dieses scharfe Schuldgefuehl mir und meinem Magen gegenueber auf. Ploetzlich klingelte das Telefon im Korridor, das mich von den traurigen Gedanken ablenkte. Abends rief mich meine Mutter oder verschiedene Dienstleister an, die aus mueden Buergern ein paar Worte herauszubringen versuchten, um ein Bild der oeffentlichen Meinung zu gewinnen, oder einfach nur Werbespezialisten fuer Kosmetikprodukte oder Staubsauger. Als die Melodie das zweite Mal erklang, sprang ich auf und rannte zum Telefon.
"Hallo?"
"Maschenka, hallo."
Ich hoerte die Stimme von einem alten Freund - einer meiner Kommilitonen am Institut. Er war damals ein pickeliger, fetter junger Mann, der Probleme mit der Verdauung und den Maedchen hatte. Wir lebten in benachbarten Vierteln, fuhren oft zusammen mit der U-Bahn und besprachen bevorstehende Tutorien und Vorpruefungen. In Bezug auf Charakter und Denkweise war er ein echter „Nerd“, was ihn als gewissenhaften Studenten, der von den Lehrern geliebt wurde, bekannt machte. Seine Laborarbeiten hoben sich durch fehlerfreien Inhalt sowie ordentliche Gestaltung hervor und waren ein Vorbild fuer die anderen. Aber ich sah in ihm nicht so sehr einen Buecherwurm, der die meiste Zeit in der Bibliothek verbrachte, sondern eher einen fleissigen und vielversprechenden Kerl, der in seiner Karriere besondere Hoehen erreichen wollte.
Aber die Tatsache, dass Igor und ich gemeinsam das Institut verliessen und auch oft lange im Lesesaal der Bibliothek aufblieben, festigte meine Kommilitoninnen in ihrem Unglauben an die Sittlichkeit unserer Beziehung. Trotz des Verdachts der Kommilitoninnen fuehlte ich mich geschmeichelt, als eine Freundin eines pickeligen, aber von den Professoren angesehenen Studenten betrachtet zu werden.
Im zweiten Studienjahr arbeitete er nebenbei am Lehrstuhl fuer Wirtschaft. Und bereits im vierten Studienjahr wurde er als Assistent eines Senior Sales Managers in einem kleinen Waschmittelunternehmen eingestellt.
Als wir unsere Pruefungen sehr gut bestanden, schworen wir uns beim Trinken einer Flasche billigen Wein an der Abschlussfeier ewige Freundschaft. Igor versprach, in einer Firma, wo er bereits arbeitete, ein gutes Wort fuer mich einzulegen. Aber weder nach einer Woche noch nach einem Monat rief er mich an. In SMS-Nachrichten verwies er auf die staendige Arbeitsbelastung und persoenliche Angelegenheiten. Allmaehlich vergass er diejenige voellig, die sein Image in den Augen junger Studentinnen verteidigte. Ich kann jedoch nicht sagen, dass ich damals sehr traurig war. Schliesslich verschafften meine Eltern mir eine Stelle als Praktikantin bei der Firma eines Freundes der Familie.
Zwei Jahre spaeter erfuhr ich von meiner Studienfreundin, dass Igor trotz seines jungen Alters bereits als wertvoller und vielversprechender Mitarbeiter in einem internationalen Unternehmen fuer die Herstellung von Haushaltswaren galt. Die Gleichgueltigkeit gegenueber der Frauenwelt erlaubte ihm vielleicht, sich auf seine Karriere zu konzentrieren, ohne von emotionalen Erfahrungen und Suchen abgelenkt zu werden.
Aber irgendwann traf ich Igor zufaellig in einem Moebelmarkt. Ich zog in eine neue Wohnung, die zwei Dritteln des Verkaufserloeses eines alten Hauses auf dem Land kostete, und er richtete die Zimmer seiner Datsche moderner ein – ein Geschenk an die Eltern. Die aeltere Generation war zunaechst gegen Veraenderungen, aber der Sohn bestand darauf, das Haus nicht nur von aussen, sondern auch von innen zu modernisieren.
Er half mir bei der Auswahl der Kueche, die ich jetzt von ganzem Herzen liebe und fuer den Inbegriff von Wohnkomfort halte. So begann Igor in mein Leben zurueckzukommen. Seitdem waren wir sogar mehrmals zusammen essen und besuchten die Datsche seiner Eltern. Es war jedoch nicht moeglich, sich dort zu entspannen, da man durch staendige Anrufe auf seinem Telefon unterbrochen wurde, was es schwierig machte, sich auf die Kommunikation zu konzentrieren. Ausserdem hatten wir dem Moment, als wir bereit waren, uns wirklich zu verlieben, wahrscheinlich aufgrund der gegenseitigen stillen Passivitaet schon in der Studienzeit verpasst. Der Gedanke, dass Igor es diesmal ernst meinte, liess mich allerdings nicht los. Er gratulierte mir zum Valentinstag. Alle Zeichen standen auf Annaeherung. Der Mann schien bereit zu sein, eine Beziehung aufzubauen.
Doch schon bald nach den ersten Fruehlingstagen versprach sein Chef ihm eine Befoerderung, weshalb er wieder ganz in seine Arbeit eintauchen musste. Und ich hoerte am Telefon: "Mascha, es tut mir leid, viel Arbeit, warte ein bisschen. Wenn ich frei bin, rufe ich dich an."
"Hast du morgen Abend Zeit? Ich wollte dir... aehm... ich wollte dich in eine Bar einladen. Um uns zu entspannen, zu plaudern."
"Was fuer eine Bar?" Man sollte einem Angebot niemals ohne weiteres zustimmen, noch dazu war mein weiblicher Stolz durch die entstandene Pause in unserer Beziehung verletzt. Obwohl ich im Wesentlichen nur neugierig war, wohin er mich einlud.
"Zum Beispiel, ein amerikanisches Bar-Restaurant. Wir koennten zu Abend essen und etwas trinken. Wir haben uns lange nicht gesehen, ich wuerde mich freuen, dich zu treffen.
Sofort kamen mir riesige Portionen Pommes, Salatblaetter, Sandwiches in den Sinn... Ich erinnerte mich an die Frau, die im Cafe bei meinem Buero mit Vergnuegen ihr Eiersandwich ass.
"Ja, gut! Wann und wo?"
"Komm zur U-Bahn-Station Sewastopolskaya, ich hole dich mit meinem Auto ab. Waere es dir um sieben Uhr abends recht?"
Natuerlich waere es besser, sich am Freitag zu treffen, wenn ich nicht ueber den bevorstehenden Arbeitstag nachdenken muesste, aber es machte keinen Sinn, das Treffen auf einen anderen Tag zu verschieben und ich wollte es auch einfach nicht.
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Ich legte auf. Etwas beschwingt kehrte ich in die Kueche zurueck und goss mein noch nicht ganz durchgezogenes Hagebuttengetraenk mit Honig in die Tasse ein. Ich fuegte einige Gewuerze, Zimt und getrocknete Nelken hinzu. Vorsichtig beruehrte ich die entstandene Fluessigkeit mit der Oberlippe, um mich nicht zu verbrennen. Ich leckte den Tropfen auf, der sich auf meinen Lippen ausbreitete, und fuehlte Gewuerzstuecke auf meiner Zunge, die noch auf den Tassenboden nicht gesunken waren. Ich atmete den duftenden "Teegeruch" ein und ging ins Zimmer. Darin befand sich ein Fernseher, auf dem ich jeden Abend einen Kanal einschaltete, der sich der Einrichtung und der Loesung haeuslicher Probleme widmete, um meine Lieblingskochsendung anzusehen. Eine Folge dauerte nicht laenger als eine halbe Stunde und lief zwischen anderen Serien.
Der Moderator nahm sanft die Hand der Gastschauspielerin und sie mischten Pilze mit Zwiebel mit einem langen Schoepfloeffel. Sie machten es zusammen, gemessen, in aller Bequemlichkeit, als ob weder das Publikum am Set noch das Publikum vor den Bildschirmen sie anschauten. oel knisterte in der Pfanne, Dampfblasen platzten in der fettigen Schicht. Sie explodierten wie ein Feuerwerk. Der Moderator stand etwas hinter der Schauspielerin und schien sie leicht zu umarmen. Sie wickelten fein geschnittene koreanisch marinierte Karotten in Essig, gebratene Pilze und Zwiebeln in den Teig und buken das alles in einem vorgeheizten Ofen. Die Piroggen schwollen an, kleine Risse bildeten sich durch die Spannung, sie waren fast fertig...
Als die Sendung vorbei war und die Piroggen zubereitet und der Menge im Senderaum zum Essen uebergeben wurden, fand ich mich beim Lecken eines Loeffels wieder. Im Mund schmeckte es angenehm suesslich nach... Marmelade. Offensichtlich war ich waehrend der Werbung bereits angeregt und rannte zum Schrank im Korridor, holte Lerkas Marmelade heraus und genoss unbemerkt die Haelfte des Glases. Aber ich war nicht veraergert und ueber meine Haltlosigkeit nicht boese. Ich fuehlte mich gut. Honig, Hagebutte, Zimt und Nelke beruhigten meine Seele und brachten den Zustand der Euphorie und weiblichen Befriedigung ins Leben.
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Nach dem gestrigen Anruf konnte ich mich nicht beruhigen. Ich dachte an den Abend, den ich mit Igor verbringen wuerde.
Bei der Arbeit streifte ich durch Internet-Blogs, die zahlreiche Bilder von Lebensmitteln in attraktiven Perspektiven und Positionen enthielten. Ich schaute auf die Stapel von Cr;pes und Pfannkuchen, von denen Fluesse aus gezuckerter Kondensmilch fliessen. Auf mit Puderzucker bestreute Donuts auf einem Teller und cremiges Eis in ihren Loechern.
Besonders inspirierte mich ein mit Bildern illustrierte Rezept, Fruchtgelee aus Marmelade zu machen. Ich erinnerte mich sofort an das im Schrank versteckte Glas und stellte mir vor, wie ich seinen Inhalt in den vorgeheizten Einkochtopf loeffelweise fallen lassen wuerde und die Beeren mit dem kochenden Wasser und der Staerke tanzen wuerden. Es wuerde hundertmal besser schmecken als mein Aufguss von saurer Hagebutte...
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Die Atmosphaere im Bar-Restaurant war laessig. Die Waende waren mit Pop-Art-Plakaten, Fotografien von Hollywoodstars und Werbung fuer Coca-Cola geschmueckt. Im Nichtrauchersaal war es hell. Offenbar beschlossen die Designer und die Verwaltung, auf ein Beleuchtungskonzept fuer eine intimere Atmosphaere zu verzichten.
Igor nahm mir meinen Mantel ab und legte ihn ueber die Lehne eines hellroten Sofas, da er keinen Staender fuer Oberbekleidung in Reichweite fand. Er legte seine Windjacke, die in einer modischen japanischen Boutique gekauft wurde, auf den Sitz.
Die Speisekarte, die bereits auf dem glatten graublau glitzernden Plastiktisch lag, bestand aus zahlreichen Variationen von Burgern und Sandwiches, Kombinationen von Salat mit Obst oder Fleisch. Die Hauptbeilage waren Pommes Frites, in der klassischen Form als Staebchen oder in Form von kleinen laechelnden Pfannkuchengesichtern serviert wurden. Drei Sossen – Ketchup, Mayonnaise und Senf – standen in grossen Flaschen auf dem Tisch. Dazu konnte man auch suess-saure Barbecuesauce, wuerzige mexikanische Salsa oder gruene Guacamole, feine Kaesesosse oder fluessige Thaisosse aus Erdnusspaste bestellen. Das alles regte in meinem Gehirn ein Meer von Assoziationen und Wuenschen an. Ich konnte mich nicht entscheiden, wollte alles auf einmal bestellen.
Igor wartete geduldig darauf, dass ich meine Wahl traf. Er sah mich an, ich spuerte seinen aufmerksamen Blick auf meiner Stirn und meinem Dekollete.
"Sind Sie bereit zu bestellen?" Der Kellner erschien, als springe er hinter meinem Ruecken hervor. Ich machte einen Satz auf der Couch. Wahrscheinlich machte sich die allgemeine Anspannung bemerkbar.
"Ja, natuerlich." Igor laechelte. "Tomatencremesuppe. Von der Pasta... vielleicht Penne mit Broccoli und Pfeffer-Sosse. Danke."
"Und ich nehme Salat mit Garnelen und Ananas. Zum Nachtisch - Apfelscheiben mit Walnuessen in Karamell und ein Kugel Eis."
"Apfeldessert fuer uns beide. Ja und ausserdem: zwei Glaeser Weisswein, bitte."
Ich sah ihn ueberrascht an. Offensichtlich versuchte er mit dem Wein eine romantische Stimmung zu schaffen, die uns, langjaehrige Freunde aus der Studienzeit, naeher zusammenbringt. Die Freunde, die sich nicht bemuehen, nach einem Lebenspartner jenseits der Vergangenheit zu suchen.
Als ich bestellt hatte, atmete ich tief durch. Ich verstand, dass Igor mich nicht einfach so eingeladen hatte. Er wollte ueber etwas bestimmtes mit mir sprechen. Vielleicht ueber sich selbst. Vielleicht ueber uns. Entgegen meiner Erwartungen sprachen wir aber ueber gemeinsame Freunde und vermieden die Themen, die uns beide betrafen. Wir besprachen diejenigen, die bereits verheiratet waren, Kinder hatten, ihre eigenen Firmen eroeffneten oder nach Goa gingen, um den Sinn des Lebens zu finden. Ich stocherte mit der Gabel nach Ananas und knabberte panierte Garnelen, bemueht, mich auf Igors Geschichten ueber einen Freund von ihm zu konzentrieren, der haeufig reist und mit einer Gruppe aehnlicher Abenteurer das glutheisse australische Klima im Zentrum des Festlandes uebersteht.
Als wir das Thema der gemeinsamen Bekannten erschoepft zu haben schienen und ich meinen Mund oeffnete, um nach seiner Arbeit und seinen Plaenen zu fragen, streckte er seine Haende nach mir aus und legte seine Handflaeche auf meine.
"Ich habe in zwei Wochen Urlaub. Lass uns nach aegypten reisen."
Mein Gesicht wechselte die Farbe. Es stellte sich heraus, dass seine Geschichten ueber den Freund und seine Abenteuer in Australien langsam zu der Idee und dem Vorschlag fuehrten, gemeinsam nach Nordafrika zu reisen.
"Das ist so... unerwartet."
Es ist eine Sache, von einem Treffen mit dem Mann, der allmaehlichen Entwicklung der Beziehung, der Zeit der Pralinen, Blumenstraeusse und urbaner Romantik zu traeumen. Eine andere ist es, ploetzlich vor der Wahl zwischen einem ungeplanten Urlaub - einem Strandabenteuer mit Igor - und meinem warmen, komfortablen, massvollen Leben zu stehen. Dieses Szenario passte irgendwie nicht in meinen Kopf.
Mein Dessertloeffel war in eine Kugel Eis eingegraben und klebte an meinen mit Karamell verschmierten Fingern. Ich sah ihn an. In meinen Augen konnte man weniger Fragen, sondern eher den Schrei einer flatternden Frauenseele lesen: „Warum verfuehrst du mich…?! Warum kommst du nur, wenn es dir passt…?! Warum sollte ich deinem Plan folgen...?"
"Ich bin einverstanden."
Waehrend ich nachdachte, schien er wie gelaehmt zu sein und erwartete gespannt meine positive Antwort auf seinen Vorschlag. Das Eis auf seinem Teller aehnelte auch eher weicher Vanillecreme, die mit Wasser verduennt wurde.
"Super. Ich bin sehr froh, dass du zustimmst. Wirklich. Wir werden eine grossartige Zeit haben." Er laechelte breit und hob sein Glas halbtrockenen Weissweines an seine Lippen.
Es war ein kleiner Sieg des grossen Mannes. Ich kaempfte nicht. Aber mit einer Minute Schweigen liess ich ihn an meiner Hingabe und Bereitschaft zweifeln, fuer denjenigen zu den Enden der Erde zu fliehen, der wie die liebe Sonne bei wolkigem Wetter in meinem Leben auftauchte und wieder verschwand.
Ich werde das mit der Arbeit irgendwie klaeren und Lerka, die in der Stadtklinik taetig ist, bitten, mir eine Krankschreibung auszustellen. Aber trotzdem... Es scheint, dass ich Igor Gesellschaft leisten werde, um die fehlende Position in seinem Reiseprogramm auszufuellen. Ich gehe, damit er sich nicht nur tagsueber, sondern auch nachts nicht langweilt. Oder?...
"Weisst du, ein Freund von mir war vor kurzem am Roten Meer und erzaehlte ueber die Unterwasserwelt. aegypten ist ideal zum Tauchen, auch fuer Laien wie uns. Bist du jemals mit Tauchgeraet geschwommen?"
Da haben wir die Bescherung! Es stellt sich heraus, dass Igor mich in seine Suche nach Abenteuer und Nervenkitzel einbeziehen moechte. Ich kann nicht sagen, dass ich gerne Adrenalin und Stress im Allgemeinen auf diese Weise bekommen moechte...
"Noch nie. Aber ich wuerde es gerne versuchen."
"Wir fahren wie ueblich, fuer nicht mehr als zehn Tage. In einem Monat habe ich eine Praesentation eines neuen Projekts. Ich moechte mit frischen Gedanken zurueckkommen, weil ich dann noch weitere Unterlagen vorbereiten und einige Punkte abschliessen muss. Und im Urlaub werde ich mich entspannen und Eindruecke sammeln, die von meinem Arbeitsbereich abweichen. Mit dir."
Vielen Dank fuer das Hinzufuegen. Er erinnerte sich an mich. Wie sollte ich auf seine kategorischen Aussagen und aeusserungen reagieren? Sollte ich mich den vorgeschlagenen Bedingungen unterwerfen, das Angebot als Moeglichkeit annehmen, eine Pause von der Routine zu machen, Spass zu haben und etwas Neues ueber die Unterwasserwelt des Roten Meeres zu erfahren?
Die Nuesse in meinem geschmolzenen Eis wurden sichtbar. Pfuetzen von kalter Sahne breiteten sich auf dem Teller aus und huellten gefrorenen Karamell ein.
"Ich werde gerne mitfahren."
Praktisch in einem Zug trank ich den Rest des Weins in meinem Glas, auf alle Normen und Regeln des weiblichen Verhaltens pfeifend. Die Bewegung wirkte kaum besonders nervoes. Jedenfalls hoffte ich, dass Igor sie nicht so wahrnahm. Schliesslich bin ich eine unabhaengige Frau mit meinen eigenen Bestrebungen, die manchmal nichts dagegen hat. Nichts dagegen hat, Teil eines Liebes- und Unterwasserabenteuers zu werden.
***
Am naechsten Tag dachte ich ueber die Nuesse auf dem Teller und den Weisswein nach. Ich sagte meinen Freundinnen nichts, um nicht jede Menge Ratschlaege und neidische Vorwuerfe zu hoeren, dass ich dem maennlichen Einfluss zu zugaenglich waere. Ich sass ruhig im Cafe und sammelte mit dem Loeffel den cremigen Kaffeeschaum von den Waenden einer Tasse, in der vor fuenf Minuten noch Cappuccino war. Die Frau mit dem Sandwich sass wie immer an ihrem gewohnten Platz und laechelte.
***
Freitags abends lief mein kulinarisches Lieblingsprogramm nicht im Kabelfernsehen. Fuer solche Faelle kaufte ich mir vor eineinhalb Jahren eine Satellitenschuessel. Nur sie stellte die Kanaele zur Verfuegung, die mein Wochenende schmueckten.
Bis drei Uhr morgens, als der Fernsehsender seine Sendung beendete, sah ich, wie jemand mit fuersorglichen und sauberen Haenden Karotten und Tomaten waescht, schneidet, hackt, backt, braet und schmort...
Es kam mir oefter in den Sinn, kochen zu lernen. In irgendwelchen Spezialkursen koennte ich in die Welt der Feinschmecker und Speisebegeisterten hinein schmecken. Dort wuerde ich die freundliche Atmosphaere der allgemeinen Einheit und Gruppenaktivitaet spueren.
Alles, was ich jemals fuer mich kochte, waren Gewohnheiten des Junggesellenlebens. Ich lud keine Gaeste ein, so dass es nicht noetig war, exquisite Gerichte zu erfinden, um irgendjemanden zu ueberraschen. Obwohl ich zu Geburtstagen und als Souvenir aus exotischen Laendern oft Kochbuecher mitgebracht bekam, aus denen ich ein ganz besonderes Rezept aussuchen und anwenden koennte.
Ich stand vom Bett auf, von dem aus ich fernsah, und holte ein Notizbuch und einen Stift aus der ersten schmalen gegenueberstehenden Kommodenschublade heraus. Ich beschloss, gruendlich an die Suche und Auswahl der kulinarischen Richtung heranzugehen und dabei das Fuer und Wider abzuwaegen.
Ich begann mit dem Romantischsten – den kulinarischen Traditionen von Frankreich.
Kerzen und Wein. Stilvolle Darreichung aufwaendiger Speisen. Die Feinheit dieser Kueche ist jedoch nichts fuer solch ungeduldige Menschen, wie mich. Man muss etwas aus etwas anderem herauspicken, trennen, verdampfen, zu kleinen Haeufchen formen. Vollendete Ausfuehrung, bei der Geschmack schon zweitrangig ist. Deshalb wende ich mich eher der aesthetischen Seite der franzoesischen Kueche zu, die allein mit ihrem aeusseren den Appetit anregt, als dass ich mich den engagierten Koechen anschliesse.
Eine Weile habe ich mich mit der Suche nach der hoeheren Bedeutung des Speisens beschaeftigt und verehrte das von Gott gesandte Essen. Ich war froh, es zum Gegenstand und Objekt von Ritualen zu machen, ich weihte es, ich betete es an. Solche Gesinnungen fuehrten mich zur hinduistischen Glaubenslehre. Ich war noch sehr jung und erforschte die Welt um mich herum. Zu dieser Zeit konnte ich viele traditionelle Gerichte probieren, die in Indien verbreitet sind. Orientalische Menschen neigen dazu, grosszuegig zu kochen und mit schwungvollen Pinselstrichen kulinarische Farben zu einem scharfen, nahrhaften und fettigen Bild hinzuzufuegen.
Extrem Suesses und extrem Scharfes erwartete mich auf dem chinesischen Teller. Im Gegensatz zum dem etwas fettigen und faden Essen der russischen Kueche waren orientalische Traditionen eine zu radikale Alternative zu dem, was mein russischer Magen gewohnt war. Kartoffelpueree mit Sauerkraut wird wohl immer einen hoeheren Stellenwert haben als chinesische Reisnudeln mit scharfer Sosse.
Fahren wir fort... Um Speisen zuzubereiten, die in der amerikanischen Kultur beliebt sind, braucht man kaum Kenntnisse und besondere Faehigkeiten, ausser denen, die ich bereits besitze. Dies wurde klar, nachdem ich am Donnerstag mit Igor ins Restaurant gegangen war. Vielleicht waere es gut. etwas mehr ueber die Zubereitungsmethoden von Sossen und mexikanischen Fleischgerichten zu lernen, die unbedingt im Kochbuch eines jeden transatlantischen Autoren enthalten sind.
Wobei, wenn uns Lieferservice genauso guenstig wie in Amerika zu stehen kaeme (dort wird man Ihnen zum Beispiel Pizza fuer lediglich sieben Dollar zubereiten und nach Hause liefern), wuerde ich es mir natuerlich erlauben, mich gemuetlich in meiner eigenen Faulheit einzurichten und mir telefonisch ein Fest fuer den Verdauungsapparat bestellen.
Apropos Pizza. In Italien hatte ich die Gelegenheit, das Gericht - rund wie eine Sonnenscheibe - zu probieren, welches leuchtend gelb von Kaese war und mit den Flammen heisser Tomatensosse brannte. Die Erinnerungen an echte italienische Kueche leben immer noch in mir und verblassen nicht.
Vor ein paar Jahren traf ich ein russisches Maedchen an einem der oeffentlichen Straende in Ligurien, der den Touristen wenig bekannt ist, aber von den Einheimischen der nahe gelegenen Stadt geliebt wird. Ich erinnere mich, dass ich sie bemerkte, als sie auf dem Bauch lag, etwas naeher am Meer als ich und etwas auf Italienisch las. Dann begann sie, muede vom Lesen, sich umzuschauen, anscheinend auf der Suche nach Unterhaltung. Zu dieser Zeit blaetterte ich zum hundertsten Mal in einer Zeitschrift, die ich am Flughafen in Russland gekauft hatte, und kaempfte verzweifelt gegen die Langeweile.
Die schoene Blondine kam herueber und sprach mich an. Sie sagte, sie sei immer froh, Landsleute zu treffen; deshalb wollte sie mich sofort kennenlernen, als sie das russische Druckwerk in meinen Haenden sah. Ihr Ehemann war Italiener, sie lebten schon seit fuenf Jahren zusammen. Marco hatte ein kleines Restaurant, in dem sich jeden Abend Stammgaeste versammelten. Freitags versammelten sich die einen Familien, samstags – die anderen. Sonntag nahmen sich Marco und seine Frau frei und assen zusammen zu Abend. An Wochentagen wurde das Restaurant auf Anfrage und nach vorheriger Absprache mit dem Gastwirt und seiner russischen Frau geoeffnet, die ihm dabei half, traditionelle Gerichte aus Pasta, Fisch, Teig, Rucola, saftigen Tomaten und Balsamico-Essig zuzubereiten.
Am Tag unseres Kennenlernens lud mich Anna, so hiess die Russin, zum italienischen Abendessen zu ihr nach Hause ein und verfuehrte mich mit der Zusicherung, dass ich noch nie so leckere Pizza gekostet habe, wie ihr Mann sie zubereitet. Aus Hoeflichkeit, mehr jedoch noch aus kulinarischer Neugier, nahm ich die Einladung freudig an, obwohl meine Leidenschaft, Fremde zu besuchen, frueher nicht sehr ausgepraegt war.
Wie es in Italien ueblich ist, lebten sie in einem kleinen, aber sehr gemuetlichen Haeuschen nicht weit vom Strand entfernt. Marco war allen Italienern zugleich aehnlich und erregte gleichzeitig die Aufmerksamkeit mit einem besonderen Charme, der den Menschen mit scharfem Verstand und grosser Lebenslust eigen ist. Ich war sogar ein wenig verwirrt, als er mir herzlich die Hand schuettelte und mir versicherte, dass er sich ausserordentlich freute, mich in seinem Haus zu sehen. Anna wirkte vor seinem Hintergrund wie eine Landpomeranze. Eine Art Eierschecke neben einem exquisiten Profiterole. "Vielleicht ist sie gutherzig und hat ein warmes Gemuet?" fragte ich mich.
Nach dem Begruessungstreffen und der Besichtigung ihres Hauses wurde ich eingeladen, an der Zubereitung der Hauptgerichte zum Abendessen teilzunehmen. Trotz unserer Annas und meiner aktiven Hilfe war Marco der Chefkoch. Seine Haende bewegten sich schnell und sicher. Es sah so aus, als wuerde er nicht kochen, sondern einen raffinierten Zaubertrick zeigen, an dessen Ende sich ein leichtes Gefuehl von Trance und Verwirrung einstellt. Wie konnte man nur den Moment verpassen, als aus einem Hut ploetzlich ein Kaninchen auftauchte?
Marco goss oel auf frische Salatblaetter, die zuvor mit den Haenden in kleine Stuecke gerissen worden waren. Er schnitt Gemuese in Scheiben und Ringe. Bestreute es mit Gewuerzen. Olivenoel brutzelte in der Pfanne und dieser Klang wird fuer immer in meiner Erinnerung bleiben, als der Klang des harmonischen Lebens, des Gluecks, des Meeres mit einem leichten Geruch nach Salz und feuchtem Gras. Knackige Sellerie und cremiges Eis. Und natuerlich die Pizza, die mit aller Liebe, aller Sonne und aller Zaertlichkeit gefuellt war, zu der ein Mensch nur faehig sein kann. Oder vielleicht gab ein wenig italienischer Rotwein und die wunderbare Gesellschaft mir das Gefuehl dieser Lebensfuelle? Oder der wissende Blick der suedlaendischen Augen unter dichten Wimpern liess meine Haut ihre weibliche Bestimmung spueren. Der leichte Beigeschmack nach etwas Unerreichbarem und Begehrtem gab den Gerichten an diesem Abend eine angenehme Schaerfe.
Am naechsten Tag, immer noch unter dem Eindruck der ueberraschung und Magie des gestrigen Abends, lag ich am selben Strand wie am Vortag, sonnte mich im Halbschlaf und traeumte von kalter Limonade mit Minze, als ich eine leichte Beruehrung auf meinem Arm fuehlte. Ich oeffnete langsam meine Augen und war aus irgendeinem Grund ueberhaupt nicht erschrocken und nicht ueberrascht, das Objekt meiner von heissen Strahlen erwaermten Fantasien zu sehen. Marcos Gesicht war mir so nahe, dass ich den Wunsch kaum unterdruecken konnte, die glaenzenden Locken sorgfaeltig gelegter Haare mit meinen Fingern zu beruehren. Sein Kopf verdeckte die Sonne und davon entstand ein leuchtender Heiligenschein, der ihm eine besondere Magie verlieh.
"Was ... warum bist du hier?" ist mir auf Englisch entkommen.
"Weisst du, wo Anna ist?"
Erst jetzt bemerkte ich, dass Marco verstoert war, eine tiefe Falte zwischen seinen Augenbrauen lag. Er erklaerte mir, dass sie nach dem Abendessen einen kleinen Streit gehabt haetten und Anna ging, um die Nacht bei ihren Bekannten im Nachbardorf zu verbringen. Das gab es schon frueher. Zwischen ihnen traten oft Widersprueche auf und Anna besass bei aller aeusserlichen Ruhe einen empfindsamen Charakter und ein gewisses Mass an Impulsivitaet. Die Bekanntschaft mit mir und die Einladung einer ihr voellig unbekannten Person zu Gast war ein weiterer Beweis fuer diese ihre Eigenschaft. Ihre Ungestuemheit gefiel mir jedoch eher, als dass sie mich abstiess.
Normalerweise kehrte sie nach einem Streit am naechsten Tag zurueck, um sich zu versoehnen, oder Marco folgte ihr zu ihren Freunden. Daran war er sogar gewoehnt und hielt es fuer einen festen Bestandteil ihres Familienlebens. Er hatte aufgehoert, sich Sorgen um ihre Abwesenheit von Zuhause zu machen. Deshalb sah er auch diesmal keinen Grund zur Sorge.
Aber Anna kehrte weder am Morgen noch am Mittag zurueck und als Marco zu ihren Freunden kam, stellte es sich heraus, dass sie sie nicht angerufen hatte und nie bei ihnen ankam. Deshalb kam er auf der Suche nach seiner Frau an ihren Lieblingsstrand. Als er mich sah, dachte er, dass sie mir vielleicht am Tag zuvor etwas ueber ihre Plaene erzaehlt haette.
In diesem Moment klingelte das Telefon in seiner Tasche. Sehr emotional und schnell begann er, auf Italienisch ins Telefon reden. Dabei gestikulierte er hektisch und strich sich durch sein makelloses Haar. Dann hoerte er dem fuer mich unsichtbaren Gespraechspartner lange zu, antwortete mit einem Fluch und warf sein Handy ins Meer, worauf die Nachbarn, die auf den hellen Strandtuechern in der Naehe lagen, erschrocken aufschrien. Marco schwieg lange und betrachtete die Stelle, an der das elektromagnetische Kommunikationsmittel ins Wasser sank. Ich war ratlos, aber ich wagte es nicht, das Schweigen zu brechen.
"Vergeben Sie mir meine Haltlosigkeit. Das passiert mir selten."
Er erklaerte mir, dass das Verhalten seiner Frau diesmal ueber die ueblichen Grenzen hinausgehe. Anna sagte, dass sie viel ueber sie beiden nachdenken muesse. Und bis sie eine Entscheidung treffe, muesse sie sich von ihrem Ehepartner fernhalten. Er verstehe es nicht, sagte Marco, denn wenn es Probleme in der Beziehung gebe, sollte man sie sofort und gemeinsam loesen und nicht davor davonlaufen. Genau wie bei Nuessen: um den leckeren Kern zu erhalten, muss man versuchen, die Schale zu brechen. Manchmal ist es schwierig.
Ich fuehlte aufrichtig mit Marco mit und war sogar ein bisschen sauer auf meine neue Freundin, weil sie so einen angenehmen Menschen leiden liess.
Marco sagte, dass er schwermuetig sei und im Moment allein nicht bleiben koenne. Er wolle auch zu seinen Freunden nicht gehen, da sie anfangen wuerden, ihn zu bemitleiden und dadurch werde er sich noch schlechter fuehlen. Jetzt brauche er nur menschliches Mitgefuehl - das Mitgefuehl eines Aussenstehenden, eines zufaelligen Mitreisenden. Das konnte ich aus seiner traurigen und verwirrten Rede verstehen. Drei Mal duerft ihr raten, wer dafuer am besten geeignet schien. Ich plante einen ruhigen Abend mit einem Glas trockenem Weisswein und einem Teller Pasta mit Meeresfruechten in einem Cafe am Meer mit Blick auf den Sonnenuntergang in intimer Gesellschaft mit mir selbst zu verbringen, um die Erinnerungen von gestern zu geniessen und die Gefuehle von echtem Glueck zu verlaengern, die mich gestern voellig erfuellten. Aber das Leben hat seine eigenen Wege und als mitleidiges und mitfuehlendes Maedchen konnte ich dem Menschen seinen einfachen, aber ihm so notwendigen Wunsch nicht versagen.
Der Wein floss dennoch an diesem seelenrettenden Abend, und zwar in grosser Menge. Marco erwies sich als ein sehr interessanter, einfuehlsamer und aufmerksamer Gespraechspartner. Ich war bereit, ihm den Ruecken zu staerken, und bemerkte im Ergebnis gar nicht, wie ich ihm von meinem ganzen Leben erzaehlte. Ich teilte alle Geheimnisse mit ihm und freute mich, eine Person nahe zu haben, mit der ich mit Hilfe unsichtbarer Antennen wortlos kommunizieren konnte, fuer die alle Verwirrung in meinem Kopf voellig natuerlich war. Und erst als ich aufwachte und der Mond, wie eine riesige Pizza, mit seinem gelben Auge in mein Gesicht leuchtete, kam ich wieder zur Besinnung und sah das Ergebnis meiner Naechstenliebe. Auf dem Bett neben mir schlief friedlich der eben noch trostlose und verlassene Ehemann, der sich schnell in fremden Armen beruhigte und ein zaertlicher und leidenschaftlicher Liebhaber wurde. Ich schaemte mich nicht fuer das, was zwischen uns passierte, sondern dafuer, dass es so suess war und ich mich dessen gar nicht schaemte.
Am naechsten Tag bereitete er mir ein Glas frisch gepressten Orangensaft zu und bot mir ein heisses Ciabatta aus dem Toaster an. Er sagte, dass er heute viel Arbeit im Restaurant habe, weil er allein alles erledigen muesse. Ich wollte entfernt andeuten, dass ich bereit war, ihm zu helfen, aber kaum oeffnete ich meinen Mund, klopfte es an der Tuer.
Marcos Bruder betrat das Haus, sah mich ueberrascht an und laechelte seltsam. Mein Haar duftete nach Wein, meine Haut nach geroestetem Brot Mir schien er roch es, als er meine beiden Wangen beim Gruss kuesste. Es stellte sich heraus, dass sein Bruder auch gut im Kochen war und sofort mit seinem Moped kam, um Marco im Restaurant zu helfen. Ich hoerte sein Motorengeraeusch, als er zum Haus fuhr, waehrend ich Schinken und Kaese auf Ciabatta genoss und mit Saft nachspuelte.
Ich fuehlte mich deplatziert und beeilte mich, zum Strand zu kommen. Die Maenner verabschiedeten sich von mir - etwas kuehl. Marco war dabei tief in seine Gedanken versunken.
Danach trafen wir uns nicht mehr. Ich wartete jeden Tag und jeden Abend am Meer auf ihn. Bis zur Abreise wagte ich es nicht, nochmal in dieses Restaurant zu gehen. Erst etwa um fuenf Uhr - nach der so genannten traditionellen „Siesta“, waehrend der ich meinen Koffer packte und die Fahrkarten fuer Bus, Zug und Flugzeug ueberpruefte - wagte ich es, die Residenz der gastronomischen Leidenschaft zu betreten, in der Marco wirkte. Anna stand hinter der Bar und wischte die Weinglaeser mit einem trockenen Handtuch ab. Sie begruesste mich herzlich und sagte, dass es ihrem Ehemann etwas schlecht gehe, so dass sie und sein Bruder voruebergehend fuer die Service- und Essensqualitaet im Restaurant verantwortlich seien. Und in der Pause zwischen Mittag- und Abendessen kuemmere sich Anna um Marco, sodass sie gar nicht genug Zeit habe, um sich am sonnigen Strand auszuruhen.
Zum Abschied umarmten wir uns fest, versprachen uns gegenseitig, E-Mails zu schreiben und uns eines Tages wiederzusehen. Ich fragte nicht nach ihrem ploetzlichen Verschwinden, gestand meine Tagen nicht ein, sondern nahm nur ihre guten Wuensche entgegen, sicher nach Russland zurueckzukommen und ging.
***
Muede vom Gedanken und den Erinnerungen beschloss ich, eine kurze Pause zu machen. Ich schnitt ein Stueck Brot ab, legte eine Scheibe Kaese darauf, dann eine Scheibe Wurst und spuelte mit einem Glas Wasser nach. Das Doping in Form eines klassischen russischen Sandwichs ermutigte mich und ich kehrte mit neuen Gedanken und Wuenschen ins Bett zurueck, die ich unbedingt ueberdenken und aufschreiben wollte.
***
Ich wachte im Morgengrauen mit einem Stift in den Falten meiner Kuscheldecke und einem Notizblock mit einer zerknitterten Seite auf. Manchmal wache ich vor dem Wecker auf und kann nicht mehr einschlafen und in die Welt der ungetruebten und erotischen Traeume eintauchen. Ich drehte mich auf die Seite und formte den Buchstaben C mit halb angewinkelten Beinen beim Versuch, meine Zehen geschickt in Pantoffeln zu stecken. Aber meine Fuesse wurden von der duesteren Kaelte des Fussbodens begruesst, der von der winterlichen Zugluft beleidigt und noch nicht von der Morgensonne erwaermt wurde.
Ich ging langsam und entrueckt in die Kueche. Schon eher aus Gewohnheit. Ich erinnerte mich, dass mir Omelett mit Tomaten am besten gelingt. Also nahm ich ein paar rote Liebessymbole aus einem Gemuesekorb und schnitt sie mit einem scharfen Messer in kleine Stuecke. Waehrend die Tomaten bei schwacher Hitze angeduenstet wurden, holte ich drei Eier. Ich fuehlte die Kraft meines Schlags und schmetterte sie mit Vergnuegen gegen den Rand meiner roten Lieblingsschuessel.
Frueher benutzte ich ein Messer, um die Eierschale zu zerbrechen, aber kuerzlich schlug ich so stark zu, dass ich das Ei sofort in zwei Haelften schnitt. Die Eierschale flog mir aus den Haenden, fiel sanft in die Schuessel und versank im Eiweiss. Dann versuchte ich lange, die Eierschalenstuecke herauszufischen. Es ist wichtig, aus den eigenen Fehlern zu lernen - auch wenn man Omelett kocht.
Ich ruehrte die dicke Masse um und begoss sie mit Milch, die wie ein Wasserfall von der Ecke der Packung auf das elastische Eigelb stuerzte und dessen Ganzheit zerstoerte. Mit einem Bratspatel strich ich die durchsichtige gelbe Fluessigkeit mit roten Wuerfeln und gruenlichen Samen in der Bratpfanne aus. Ich steigerte die Flamme, indem ich den Regler bis zu einem kritischen Punkt drehte, an dem er stoppte und mir Widerstand leistete. Die Pfanne wurde aufgeheizt und mit fehlendem Eifer ruehrte und schabte ich die anbrennende Mixtur. Allmaehlich stockte sie und verwandelte sich in weiche Baellchen. Wie Planeten inmitten fluessigen Gases kamen sie zusammen, vereint durch die Bewegung einer hoeheren Macht.
Ich schob die Pfanne von dem lodernden Brenner zu den anderen, die friedlich schliefen. Das Brutzeln und Zischen hoerten auf. Das entstandene "Gericht" legte ich in eine kleine Schuessel und wuerzte es mit getrocknetem Basilikum, welches noch aus der Zeit meiner Italienreise uebrig war.
Es war sehr koernig und broeckelig, lecker und weich. Meine Emotionalitaet beim Kochen, die eingeflossenen Expressionen und Gefuehle waren in jedem Stueck Omelett spuerbar.
***
Am naechsten Freitagabend erhielt ich per E-Mail eine Einladung zur monatlichen Verkostung in einem teuren Restaurant, in welchem die Hochzeit einer meiner Kolleginnen einst gefeiert wurde. Die Kueche und Getraenke waren an diesem festlichen Tag nicht genug zu loben. Deshalb stellte ich, nachdem ich nach Hause zurueckgekehrt war und auf der Webseite des Restaurants die Gerichte auf der Speisekarte bewundert hatte, eine Anfrage nach der Teilnahme an kostenlosen Veranstaltungen fuer echte Kenner schoener und leckerer Gerichte, die leuchtende Augen und empfindungslustige Zungenpapillen hatten.
Ich schlug Igor vor, mich zu begleiten. Er stimmte zu. Immerhin hinderte die beiden ledigen jungen Menschen nichts, die bald gemeinsam in den Urlaub fahren wollten, einen Samstagabend zusammen zu verbringen.
Ich warf mich in Schale, als ob ich zur wichtigsten aller Verabredungen ginge. Ein interessantes Abenteuer im Land des Geschmacks und der Kunst der Liebe zum Essen erwartete uns.
Ich war etwas spaet dran, Igor wartete schon im Auto gegenueber dem Eingang. Wir gingen unbehelligt an den Tuerstehern vorbei. Die strengen Waechter sagten uns nichts wie „Entschuldigung, heute haben wir eine interne Veranstaltung“ und liessen uns hoeflich mit einem Laecheln auf ihren grossen Gesichtern hineingehen. Wahrscheinlich schienen wir ihnen bereit, in der Bewunderungsekstase fuer das bevorstehende Erlebnis zu baden.
Wir wurden in den kleinen Saal gebracht, in dem das Licht hell war, um nicht zu sagen blendend wie die Sonne. Zunaechst zeigte man uns die Gerichte und erzaehlte ein wenig ueber die herausforderndsten Bedingungen ihrer Zubereitung. Allmaehlich begannen die praechtigen Kronleuchter zu verblassen, bis die einzige verbliebene Lichtquelle ein paar Kerzen waren, die weiter brannten.
Es wurde empfohlen, nicht nur die aussergewoehnliche Erscheinung der Gerichte zu bewundern, sondern auch ihren Geschmack zu geniessen, sich auf die Empfindungen an der Zungenspitze zu konzentrieren und alles andere zu vergessen. Wir verkosteten Roastbeef mit Apfelchips, Kuerbis mit Haehnchenstuecken, zahlreiche Salatkompositionen und das Gefuehl von Magie und echter Exotik ueberwaeltigte uns.
Als wir am Tisch mit dem Dessert standen, legte Igor seine Hand um meine Taille und kuesste mich zuerst sanft auf die Schlaefe, dann ein bisschen mutiger auf die Lippen. Der Geschmack von Sahnecreme und Erdbeer-Biskuit brachte mich vor Vergnuegen um den Verstand.
Nachdem die Verkostung der Gerichte des neuen Chefkochs zu ihrem logischen Abschluss gekommen war, wurden alle Besucher in den Hauptsaal eingeladen, wo man die Geschmackskombinationen, die einem am besten gemundet haben, in groesseren Portionen auswaehlen durfte sowie die Auffuehrung einer Jazzgruppe anhoeren konnte.
Igor schlug aber vor, zu seinem Haus zu gehen und uns - weit weg von der Hektik der Teller und Messer - zusammen zu entspannen.
Beeindruckt von der hervorragenden Kueche und einem angenehmen Abend entschieden wir uns, Milchshake mit Banane und Honig zuzubereiten. Aus den schoenen Glaesern tranken wir langsam ein saemiges, suesses Getraenk und dehnten genuesslich die zaertlichen Worte, die wir einander sagten. Wir kamen naeher und naeher und bald flossen die klebrigen zarten Honig-Bananen-Stroeme ueber unsere erhitzte Haut, die mit Verlangen und Leidenschaft brannte. In dieser Nacht vereinten wir uns als Bestandteile exquisiter Kueche zu einem einzigen Geschmacksmeisterwerk.
***
Das Flugzeug hob vom Boden ab, unsere Ruecken wurden in harte Economy-Class-Sitze gedrueckt. Die sich entfernende Erde schien ein Schokoladental mit Lebkuchenhaeusern zu sein. Gruen gefaerbtes Zuckerpulver legte sich wie flauschige Waelder ueber die Landschaft. Wir flogen immer hoeher hinauf und erreichten die sanfte, mit aufgeschlagener Sahne und luftige, schaumigen Klumpen fette Milch. Wie ein Messer schnitten wir geschmeidige Wolkenquarkmassen, bis wir uns ueber ihnen befanden...
Bonbons, die vor dem Start an uns ausgeteilt wurden, schmolzen im Mund und klebten an den Zaehnen und dem Gaumen. uebermaessige Suesse verursachte einen Krampf im Kiefer und setzte die Ohren zu.
Es gab zwei Arten von Essen an Bord. Besser gesagt, Makkaroni wurden jedem serviert, aber das Gebratene konnte man selbst auswaehlen: Huehner- oder Lammfleisch. Zwischen Lamm und Haehnchen faellt meine Wahl immer auf das zweite. Nach dem Essen tranken wir etwas Rotwein und schliefen ein.
Wir landeten in einer Gluthitze, der uebermaessigen Waerme des aegyptischen Sommers. Waehrend wir mit dem Bus zum Hotel fuhren, drehte sich in meinen Traeumen alles nur um einen Schluck Wasser. Der Schweiss troff von der Stirn und verfing sich in den Augenbrauen. ueber der Oberlippe sammelten sich kleine Troepfchen, die auf die Lippen fielen und sich darauf den in kleinen Faeltchen und Rissen ausbreiteten.
An der Hotelrezeption stand eine kleine Schale mit Fruchtgummi und bunten Bonbons. Gelaeutert von den uebermaessig suessen Erfahrungen, die ich mit dem Lutschen der Abflug-Bonbons machte, widerstand ich der Versuchung, ein paar der Leckereien zu nehmen.
Das Mittagessen im Hotelrestaurant war bereits beendet, aber wir waren darueber nicht traurig. Bei heissem Wetter verringert sich der Appetit, daher schlug Igor vor, einfach im Schatten am Pool zu liegen und erfrischende Fruchtcocktails zu bestellen. Das Eis in unseren Glaesern knackte unter dem Einfluss der heissen Luft.
Beim Abendessen trafen wir die reifen, fuer den Urlaub schlanker gewordenen Maedchen, mit ihren dicklichen Maennern. Paare liefen von einem Tisch mit Speisen zum anderen. Der Saal voller Tische mit allerlei Speisen war so gross, dass, wuerde man die hungrigen Besucher und alle Moebel entfernen, der Raum durchaus fuer die Veranstaltung von grossen Baellen mit tanzenden Frauen in Roecken mit einem Durchmesser von nicht weniger als zwei Metern geeignet waere.
Das Abendessen - natuerlich ohne Beschraenkungen. All-Inclusive. Nur Alkohol musste extra bezahlt werden. Igor war schon mit diesem System in Hotels vertraut, und so tranken wir vorher zwei Cocktails auf unsere halb verhungerten Maegen, in die wir nur zwei Kokosnussschnitze von einem Obstteller warfen, der auf der Bar stand.
Ich sah meine Mitmenschen an, die ganze Berge von Salat, Fleisch, Wurst und Kaese auf Tabletts sammelten, die bei den hektischen Bewegungen des menschlichen Typus "echter Tourist" fast auf den Boden fielen. Die Kameras, die an den Baendern um den Hals von Touristen-Ehegatten vergessen wurden, baumelten vor ihren Baeuchen. Ich erinnerte mich, dass wir den ganzen Tag kein einziges Foto gemacht hatten. Etwas verstimmt von diesem Gedanken sammelte ich eine ganze Menge kulinarischer Kunst orientalischer Koeche auf meinem Teller.
Als ich mich unserem Tisch naeherte, bemerkte ich, dass Igor sich nur ein paar Salatblaetter mit Kirschtomaten, ein Stueck Wassermelone und Orangensaft genommen hatte. Ich erstarrte mit meinem schweren Teller und begann langsam vor Scham zu erroeten.
"Ich dachte, Frauen wuerden weniger essen."
Es war mir richtig peinlich. Ich trat unwillkuerlich einen Schritt zurueck und wollte mich von ihm abwenden, um seinen kaerglichen Teller nicht zu sehen. Ich wollte irgendein geistig gesundes aelteres Ehepaar finden, das bei jedem Abendessen mehr Speisen als alle anderen anhaeuften, da sie sich nicht jedes Jahr wie auf dem Olymp fuehlen koennen, wo das Manna den Goettern in goettlichen Mengen zur Verfuegung standen.
"Was hast du? Setz dich. Ich habe mir einfach angewoehnt, nach dem abendlichen Training nicht viel zu essen. Um fit zu bleiben: kein Protein auf die Nacht."
Das Geheimnis seines makellosen Aussehens enthuellte sich vor meinen Augen und zeigte den Grund fuer die erstaunliche Veraenderung meines Freundes. Igor machte nicht nur zum Spass Sport, er wollte attraktiv sein, was er weder in der Schule noch in seiner Studentenzeit war. Er ass ruhig und ohne Fanatismus, es war klar, dass es ihm gut schmeckte. Aber reichliches Essen war nicht das Ziel und das einzige Vergnuegen in seinem Leben.
***
Am naechsten Tag fuhren wir mit einem kleinen Shuttlebus vom Hotel zum Meer. Wir holperten ueber Strassen voller Unebenheiten, die scheinbar vor langer Zeit angelegt wurden. Die Vibration der Sitze war wie die eines stimulierenden Massagesimulators.
Wir meldeten uns fuer den obligatorischen Tauchunterricht an. Der Tauchgang selbst sollte einen Tag spaeter stattfinden. Ausserdem fegten wir mit aufblasbaren Riesenbananen uebers Wasser, spielten Beachvolleyball, gingen haendchenhaltend am Meer entlang, tranken Cocktails, um den Durst zu stillen, schauten in den strahlend tuerkisblauen Himmel und genossen einfach den Urlaub.
Wir gingen nicht zum Mittagessen, sondern blieben am Strand. Wir schmierten uns gegenseitig mit Sonnencreme ein und ruhten uns auf hellen Handtuechern aus. Igor hoerte mit seinem Player Musik und ich las eine am Flughafen gekaufte Zeitschrift. Ungeachtet der Tatsache, dass ich nicht allein, sondern mit einem Mann Urlaub machte, beschloss ich meine Tradition nicht zu aendern.
Waehrend der Reise schwammen wir tagsueber viel und liebten uns nachts lange und ich spuerte, wie meine Muskeln staerker und fester wurden. Ich verlor schnell an Gewicht und spuerte aeusserliche und innerliche Leichtigkeit. Endlich fuehlte ich mich wieder eine Frau.
Alle zwei Tage tauchten wir in die Fluten ab. Ich mochte das Tauchen und besonders den Gedanken, dass ich Igors Leidenschaft aufrichtig teilte. Es war so schoen, sein froehliches Gesicht in der Maske zu sehen, und auch sehr lustig, wenn er mir mit seinen Haenden Zeichen gab, damit ich naeher schwamm und einige besondere Fische beobachtete. Nach den Tauchgaengen war er noch zaertlicher zu mir, der Zufluss positiver Energie wirkte sich gut auf die Beziehung aus, ein echtes gegenseitiges Verstaendnis herrschte zwischen uns.
Abends lagen wir uns im Bett in den Armen und sprachen ueber Zukunftsplaene. Igor fehlte die Stabilitaet, und mir – die Lebensfreude. Vier Tage vor unserer Abreise tat er etwas, das ich gar nicht erwartete.
Wir sassen auf einer Schaukel, umgeben von wohlgenaehrten Palmen, deren Staemme buchstaeblich platzten vor innerer Fuelle. Bananen-Kokos-Cracker, Obst- und Suessigkeiten-Feuerwerk streuten ihre Luftschlangen und Glitzer auf uns. Und dann fragte Igor mich, ob ich seine Frau werden wolle.
Nur verheiratete Kollegen wurden befoerdert und ich sei ein anstaendiges Maedchen. Wir kennen uns schon lange, er wuerde gerne seine Freizeit und menschliche Waerme mit mir teilen.
Ich antwortete mit einem Laecheln und Schweigen. Mit Verweis auf den etwas berauschten Zustand nach drei Glaesern Wein, die wieder nach draussen wollten, bat ich darum, mir etwas mehr Zeit zu geben.
***
Am naechsten Morgen sagte Igor, dass er Feiern fuer die Gaeste, die "Hochzeit" genannt werden, nichts verstehe, und bat mich, mich darum zu kuemmern, falls ich seinen Antrag annehme, worauf er sehr zaehlt. Die zahlreichen Hochzeiten, die mir vergoennt waren, zu besuchen, zogen noch einmal vor meinem inneren Auge vorbei.
Ich erinnerte mich an Lerkas Hochzeit besonders gut. Eine Atmosphaere von Einfachheit, Harmonie, wahrer Liebe und allgemeiner Akzeptanz wurde durch eine hervorragende Auswahl an Gerichten auf der Hochzeitstafel ergaenzt. Aber besonders praegte sich mir die Torte ein. Der Zuckerguss kuesste jeden Zahnspalt und verfing sich darin, floss unter die Zunge und sickerte wie eine schaumige Fontaene durch die Mundwinkel. Ich erinnere mich, es war mir irgendwie peinlich, das dritte Stueck zu nehmen, waehrend ich neidisch auf die Teller der Gaeste schaute, die langsam ihr erstes Stueck assen und noch die Gelegenheit hatten, ein zweites Stueck zu geniessen.
Ganz in unseren Tellern versunken fruehstueckten wir gemuetlich und genuesslich. Ich hatte das Gefuehl, dass wir in Wirklichkeit nichts zu besprechen hatten. Wir schienen zu einem Hoehepunkt gekommen zu sein und uns fuer etwas entschieden zu haben.
Und das Tortenbild ging mir nicht aus dem Kopf. Ich sah es ueberall, wenn wir am Strand lagen. Die Meeresgischt sah wie Sahne und Zuckerguss aus, der sich auf dem fluffigen Tortenboden ausbreitete... Die Sonnencreme wollte ich auch probieren – hat sie vielleicht den gleichen suessen Geschmack, wie ihr Geruch verheisst…?
Zum Abendessen ass ich zwei Stuecke Obsttorte. Ich pfiff auf alle Konventionen und stellte mir nur vor, ich wuerde das gleiche Meisterwerk wie bei Lerkas Hochzeit essen.
***
Morgendaemmerung, lila-rosa Aquarellflecken im tuerkisfarbenen Himmel. Igor schlief einen gleichmaessigen, sanften, fast kindlichen Schlaf. Ich sah ihn an, aber anstatt der Verliebtheit fuehlte ich ploetzlich ein scharfes Stechen in meinem Bauch. Hunger. Zum ersten Mal wollte ich wirklich essen, nachdem meine Beziehung mit Igor erneuert wurde.
Ohne auf sein Erwachen zu warten, stieg ich aus dem Bett und band mir irgendwie die Haare zu einem Dutt im Hinterkopf. In Shorts, die mit der Torte von gestern befleckt waren, ging ich in den Flur. Ich stieg in den Lift und fuhr in den ersten Stock hinunter, wo das Buffet war. Schon konnte man ein leichtes Klirren von schneeweissen, sauberen Tellern, Loeffeln und das Gesurr einer Kaffeemaschine hoeren.
Ich betrat mein persoenliches Paradies.
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