Der Rabbiner des Sternenhimmels und der Rabbiner d
Der Rabbiner des Sternenhimmels und der Rabbiner der verloeschenden Kerze (Teil 1) Von Boris Vugman
Epigraph: Wie es im Talmud heisst: "Nicht ist es deine Aufgabe, das Werk zu vollenden, aber auch nicht steht es dir zu, dich ihm zu entziehen." (Pirkej Awot 2:16)
Versuchen wir, zwei grosse Rabbiner miteinander zu vergleichen — zwei Gaonim (Weise), getrennt durch zwei Jahrhunderte, zwei Epochen und moeglicherweise zwei Welten.
Der erste ist Rabbiner Zakuto (16. Jahrhundert, Koenigreich Kastilien, Spanien). Dies war eine Zeit, in der die Weisen des Judentums, des Islams und des Christentums noch einen friedlichen Dialog und Wissensaustausch pflegten, selbst vor dem Hintergrund eskalierender Kriege zwischen maechtigen Herrschern. Zakuto war nicht nur ein Gelehrter der Tora, sondern auch ein Berater des Koenigs, Ingenieur, Astronom, Mathematiker und Schoepfer astronomischer Tafeln. Er war der Mann, der Christoph Kolumbus mit einem Astrolabium und Finsternistafeln ausstattete und ihn so in einem kritischen Moment rettete. Er half Vasco da Gama, den Kurs der Schiffe nach Indien zu berechnen. Ein Weiser, der an der Grenze zwischen Erde und Himmel steht, Politiker und Wissenschaftler, der Glauben und Wissenschaft verbindet.
Der zweite ist der Gaon von Wilna (18. Jahrhundert, Gebiete der Rzeczpospolita). Eine v;llig andere Zeit: Die Juden wurden aus dem gro;en Dialog der Voelker verdraengt, die Wissenschaft verlagerte sich an die Universitaeten, und die jutdischen Genies zogen sich in Ghettos zurueck, in die Mauern der Synagogen, inmitten der Handschriften des Talmud, vertieft in endlose Auslegungen alter Texte. Der Gaon des 18. Jahrhunderts ist ein Weiser des Kerzenlichts, eines schwachen Lichtscheins ueber Pergamenten, ein Genie der Zur;ckgezogenheit, aber nicht mehr ein Genie der Entdeckungen. Er ist ein Meister kabbalistischer Raetsel, aber kein Schoepfer neuer Weltkarten. So hat sich der Begriff des Gaon — des Weisen — in zwei Jahrhunderten, vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, veraendert. Vom Weisen, der Schiffe in die Neue Welt lenken konnte, zum Weisen, der in einer Kammer bei Kerzenlicht nach verborgenen Bedeutungen in alten Schriften sucht.
Verehrter Leser, lassen Sie uns gemeinsam versuchen zu verstehen: Warum ist das geschehen? Warum hat sich in nur zwei Jahrhunderten das Bild des Weisen so verengt — vom Ingenieur des Kosmos zum Einsiedler unter Texten? Vielleicht k;nnen wir in diesem Prozess ein universelles Gesetz erkennen, das nicht nur das Judentum, sondern auch den Islam betrifft. Neben Zakuto standen islamische Genies wie Avicenna, Al-Biruni, Omar Khayyam — humanistische Wissenschaftler von universellem Rang. Und wo waren sie zwei Jahrhunderte sp;ter? Wo sind ihre Erben? Vielleicht finden wir Parallelen zur heutigen Zeit? Denn auch heute sind Wissenschaft und Weisheit getrennt, und in der globalen Welt ist die Stimme wahrer Gaonim selten zu hoeren. Und vielleicht koennen wir gemeinsam die Hauptfrage beantworten: Warum bringt die Welt keine wahren Weisen mehr hervor?
Anmerkung zur Illustration: Das Zimmer Zakutos und das Treffen mit Kolumbus Auf der Illustration sieht man Christoph Kolumbus im Gespruech mit einem juedischen Gelehrten in einem Laboratorium (Rabbi Abraham bar Shmuel Zakuto). Im Vordergrund steht ein massiver Eichentisch. Auf dem Tisch liegt ein Buch mit astronomischen Tabellen, mit deren Hilfe sich die Position eines Punktes auf Land oder Meer (eines Schiffs im Ozean) bestimmen laesst. Dazu genuegt es, die Winkelstellung der Sterne mit Hilfe der daneben liegenden Astrolabien und Winkelmesser zu messen. Diese Positionsbestimmung im Raum ist sowohl fuer das Judentum als auch fuer den Islam wichtig. Gemaess den "Glaubensgesetzen" muss die Ausrichtung des Tempels und des Betenden strikt auf Jerusalem bzw. Mekka gerichtet sein. Ein wenig weiter hinten steht ein Tisch mit einem Globus in einem Rahmen aus Winkelskalen. Daneben liegt ein Buch mit genauen Tabellen nicht nur von Kalenderdaten, sondern auch von den Tagen der Neumonde (Rosch Chodesch). Besonders hervorgehoben sind die Tage und Uhrzeiten bevorstehender Sonnenfinsternisse. An den Waenden haengen grosse Karten mit lateinischen, arabischen und hebr;ischen Inschriften. Etwas weiter entfernt steht ein Holzregal mit Traktaten, auf deren Ruecken Namen wie "Al-Biruni", "Ptolemaeus" und "Maimonides" zu lesen sind. In der Mitte des Raumes haungt ein bronzenes Astrolabium, verziert mit Gravuren in hebrauischen und arabischen Buchstaben. Zakuto haelt ein tragbares Astrolabium in der Hand und zeigt Kolumbus, wie man damit die genaue Uhrzeit bestimmt. Er erklaert Kolumbus die Route zu neuen Laendern. Kolumbus haelt eine Seekarte ausserhalb Europas und Afrikas in der Hand, hoert aufmerksam zu, fragt gelegentlich nach und nickt bewundernd. "Hier", sagt Zakuto und zeigt auf eine Linie, die ueber die Saeulen des Herkules hinausfuehrt, "musst du den Str;mungen folgen, die von den Arabern studiert wurden. Wenn du richtig faehrst, tragen dich die Winde zu den Laendern, von denen der islamische Forscher Al-Farghani schrieb..." Kolumbus nimmt das Astrolabium in die Hand. Es ist kuehl und schwer, wie ein Symbol jahrhundertealter Weisheit. Nur wenige Jahre spaeter wird ihm genau dieses Wissen das Leben im Neuen Land retten. Als die Indianer Kolumbus gefangen nehmen, droht er ihnen, die Sonne zu nehmen. Er bestimmt die Zeit einer bevorstehenden Finsternis. Die veraengstigten Indianer glauben, Kolumbus beherrsche das Gestirn, und erklaeren sich bereit, die ganze Schiffsbesatzung zu versorgen. Leserinnen und Leser, achten Sie bitte auf: DAS JUEDISCHE ASTROLABIUM und die Navigations-Tabellenbuecher.
Fortsetzung folgt...
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