A Frau, wo nach Benzin riecht
Ich sah alles gleichzeitig. Geruch von Kiefernharz und Salzwasser im Zelt des Sommerlagers. Anna, Kurt, Dieter — Atem im Einklang, Haut, Waerme, stockendes Fluestern. Annas Blick, dann Kurts — von oben. Dann Dieters. Und wieder bin ich daneben, wie durchsichtig, sie bemerken mich nicht. Am Steuer — der W125 Rekordwagen. Drehzahlmesser naehert sich sechstausend, Geschwindigkeit — dreihundertfuenfzig, vielleicht mehr. Asphalt zieht sich als graues verschwommenes Band, Wind bruellt so, dass der Motor zu verschwinden scheint. Vorderachse komplett entlastet, mit dem Ruecken und Handflaechen spuere ich die Leere unter der Nase des Wagens. Kaum noch Haftung. Es reicht, Gas um eine Atemdicke hinzuzufuegen — und die Reaktion des Drehmoments kippt um die Hinterachse, Ueberschlag, Ende. Aber anhalten darf man nicht. Im Zelt Annas Schrei — entweder Schmerz oder Begeisterung. Kurt, Dieter. Auf der Strecke lasse ich das Gaspedal fuer einen Bruchteil eines Augenblicks los — die Nase beruehrt wieder die Strasse — und druecke das Pedal wieder durch. Ploetzlich Haende am Lenkrad — nicht meine: gross, sonnengebraeuent, in Lederhandschuhen. Rudi. Ich siege, indem ich die Maschine schaffe, die er faehrt. Zielflagge. Champagnertropfen rinnen ueber die Haut wie eine warme Dusche. Erster Platz, Weltrekord. Die Menge ruft meinen Namen. Eine Welle steigt aus der Tiefe, durchfaehrt den ganzen Koerper auf einmal, wie Fallen und Fliegen in einer Bewegung. Ueberflutet, erstickt, loest Grenzen auf. Ich fange an aufzuwachen.
Erwachen.
Kaelte. Decke in einem Knaeuel an den Fuessen, Nachthemd auf die Taille gerutscht. Draussen — vormorgenliche Dunkelheit vor blassem Grau. Atem schwer, Herz schlaegt wie nach einem echten Rennen, Laken klebt an der Haut. — Mein Gott, — dachte ich. Stand auf, schwankend. Nachthemd fiel zu den Fuessen. Hob es vom Boden auf, drueckte den warmen Stoffklumpen in der Hand und ging zur Tuer. Barfuss ueber kalte Dielen. Flur. Kaffeegeruch. Geruch von gerostetem Brot. Mutter ist schon aufgestanden, bereitet Fruehstueck zu. Stiess die Kuechentuer auf und trat ein.
Kueche.
Waerme. Auf dem Herd blaue Flamme unter der Pfanne. Mutter steht mit dem Ruecken, wendet geroestetes Brot. Vater am Tisch, Zeitung. Und Erich. Ebenmaessiger dunkler Anzug, weisses Hemd, Haare zurueckgekaemmt. Spricht leise, gemessen. Ich erstarrte in der Tuer, mit dem Nachthemd in der Hand. Mutter drehte sich um — Augen weiteten sich. — Greta! Erich hob den Blick, eine Sekunde, noch eine. Er wandte den Blick nicht ab und war nicht verlegen, schaute einfach ruhig, aufmerksam — und kehrte zur Tasse zurueck. Ich verstand immer noch nicht, warum ich hier war und nicht auf dem Podium, warum niemand gratulierte — denn ich war Erste, ich hatte gewonnen, ich hatte einen Rekord aufgestellt. Ich legte das Hemd auf den freien Schemel an der Wand und setzte mich neben Erich. Mutter stellte schweigend eine Tasse vor mich — warm, weiss, mit einem feinen Riss am Henkel, genau die aus der Kindheit. Auf dem Tisch — meine Zigarettenschachtel. Niemand sonst im Haus rauchte. Und ich rauchte nicht, solange Kurt lebte. Ich nahm eine, strich ein Streichholz an. Tiefer Zug. Rauch — in duennem Strahl. Tabakgeruch wurde scharf staerker. Erich sagte nichts, aber ich erinnerte mich — er vertrug keinen Rauch. Stand auf, oeffnete das Fenster. Kalte Oktoberluft drang herein. Liess den Rauch hinaus, drueckte die Zigarette aus — ich rauchte nie bis zum Filter — und kehrte zum Schemel zurueck. Nahm das Hemd, zog es mit einer Bewegung ueber den Kopf, Stoff glitt ueber die Haut, kuehl, weich. Setzte mich wieder. — Entschuldigung, — sagte ich und sah Erich an. — Bin nicht gleich aufgewacht. War noch drin im Traum.
Gespraech.
Erich nickte, als waere nichts Ungewoehnliches geschehen, als wuerde er jeden Morgen mit einer Frau fruehstuecken, die hereinkommt, Rauch aus dem Fenster laesst und sich erst dann anzieht. — Ick hab deinen Eltern von Fuerstenwalde erzaehlt, — sagte er gleichmaessig. — Von meinen. Vater — bei der Eisenbahn. Vaters Bruder — hier in Stuttgart, am Rangierbahnhof. Vater hob die Augen von der Zeitung. — Mueller? Herr Mueller vom Rangierbahnhof? — Ja. Vater wechselte einen Blick mit Mutter, Gesicht wurde lang. — Also bist du dieser Neffe? Greta, erinnerst du dich, ich hab's erzaehlt? Ich erinnerte mich — vage: Herr Muellers Neffe interessiert sich fuer dich. Damals winkte ich ab: Arbeit, Rennen, Abendschule. — Erinner mich, — sagte ich leise. — Du hast noch gsagt, ihm wuerd's net gfalla, dass ich nach Benzin riech und ueber Eisazueg nachdenk. Mutter stellte den Teller mit gerostetem Brot hin, sah mich lang und schmerzlich an — ihr war peinlich: wegen meines Aussehens, wegen der Zigarette, wegen dem, wie es neben so einem anstaendigen jungen Mann aussah. Aber Erich schien nichts zu bemerken. Ploetzlich keuchte Mutter auf. — Greta! Deine Haare! Ich beruehrte die Schlaefe — eine Straehne, voellig grau, silbern. — Wann isch des... — begann Mutter und brach ab. — Schon lang her, Ende September, — sagte ich. — Nach dem Ausbrecher. Ich hab versucht, des Verhalte vom Rekordwage bei hoher Gschwindigkeit zu verstehe, und hab beinah Dummheite gmacht. Ich sagte nicht — waere fast gestorben. Vater wurde blass. Er verstand: wenn das Grau augenblicklich kam, dann war es wirklich erschreckend gewesen. Er stand auf, kam naeher, beruehrte vorsichtig den silbernen Faden. — Kurt... — fluesterte er. — Nach Kurt wurde deiner Mutter in einer Woche die Haelfte vom Kopf grau. Mutter wandte sich ab, Schultern zuckten. Ich erinnerte mich — Kurt fiel Anfang vierunddreissig vom Himmel. Die Eltern alterten in einem Monat um zehn Jahre — graue Gesichter, graue Schlafen, Augen, in denen der Schmerz fuer immer wohnte. Meinen Tod werden sie nicht ueberstehen, — dachte ich. Erich schwieg, schaute aufmerksam — ohne Mitleid, ohne Furcht, einfach mit Verstaendnis. — Greta, — sagte er leise, — erzaehl. Net bloss von dem Fall. Erzaehl von dir. Ich sah ihn an. Dann Vater. Mutter. — Des dauert lang, — sagte ich. Vater setzte sich, faltete die Zeitung zusammen. — Mir habet Zeit. Sag, was du fuer wichtig haeltsch. Mir hoeret zu. Du redsch selta ueber dich. Ich trank einen Schluck Kaffee, schloss die Augen. Und begann mich zu erinnern.
Schule. Stuttgart. Von neunzehnhundertvierundzwanzig bis achtundzwanzig.
Ich war zwoelf, als ich mich zum ersten Mal im Unterricht aeusserte. Der Mathematiklehrer rief Franz zur Tafel — einen Jungen aus der dritten Reihe, der die Hausaufgaben nicht gelernt hatte. Er zoegerte, wurde rot, schaute auf den Boden. Der Lehrer schrie. Die Klasse lachte. Franz weinte. Zwanzig Minuten gingen dafuer drauf. Ich hob die Hand. — Herr Lehrer, warum verschwendet mir Zeit dafuer? Stille. Der Lehrer drehte sich um. — Was hasch du gsagt, Greta? — Warum Zeit fuer oeffentliche Schande verschwendet? Gebet ihm a Fuenf und losset die lerna, die lerna wollet. Mir habet zwanzig Minute verlora, in dena mir Wissa haettet bekomma kenna. Des isch net rational. Ich wurde zum Direktor gerufen, die Eltern — in die Schule, es gab einen Skandal. Aber Vater unterstuetzte mich. — Sie hot Recht. Die Schul isch zum Lerna da, net fuer oeffentliche Erniedrigunge. Mit fuenfzehn sprach ich wieder — auf der Lehrerkonferenz. — Fraeulein Schmidt, Sie ignorieret die Hausaufgabe. — Ja. — Warum? — Weil sie sinnlos send. Des Material isch im Unterricht verstanda worda. Warum drei Stunda fuers Abschreiba verschwendet, wenn ma lesa und denka koennt? — Disziplin isch Teil der Erziehung. — Disziplin um der Disziplin willa isch Dummheit. Sie muss ama Zweck diena. Gebet mir a Fuenf und mir machet weiter mit Lerna. Mit sechzehn schrieb ich dem Direktor einen Brief ueber das Notensystem: Noten sind keine Belohnung und keine Bestrafung, sie sind Wissensmessung. Sie sollten nur dem Lehrer und dem Schueler bekannt sein. Oeffentlichkeit erniedrigt die einen und erhebt die anderen, und stoert noch die Objektivitaet: der Lehrer schaut unwillkuerlich auf die Noten des Schuelers in anderen Faechern, und das verzerrt das Bild. Der Brief wurde abgelehnt. Aber ich wusste — ich spreche richtig. Und zehn Jahre spaeter, als ich zu Daimler-Benz kam und dasselbe sah — Chef schreit, Untergebener schweigt, oeffentliche Abrechnung statt sachlicher Besprechung — verstand ich: die Schule war eine Probe gewesen. Ich oeffnete die Augen. Erich schaute aufmerksam, lange. — Greta, — sagte er leise, — warst du immer so? Hast immer direkt jesprochen? — Ja. Immer. Isch des a Problem? — Nein, — er schuettelte den Kopf. — Des isch wunderbar. Die meischte lernet zu schweiga. Aber du hasch glernet, die Wahrheit zu saga.
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