A Frau, wo nach Benzin riecht

Traum.

Ich sah alles gleichzeitig. Geruch von Kiefernharz und Salzwasser im Zelt des Sommerlagers. Anna, Kurt, Dieter — Atem im Einklang, Haut, Waerme, stockendes Fluestern. Annas Blick, dann Kurts — von oben. Dann Dieters. Und wieder bin ich daneben, wie durchsichtig, sie bemerken mich nicht. Am Steuer — der W125 Rekordwagen. Drehzahlmesser naehert sich sechstausend, Geschwindigkeit — dreihundertfuenfzig, vielleicht mehr. Asphalt zieht sich als graues verschwommenes Band, Wind bruellt so, dass der Motor zu verschwinden scheint. Vorderachse komplett entlastet, mit dem Ruecken und Handflaechen spuere ich die Leere unter der Nase des Wagens. Kaum noch Haftung. Es reicht, Gas um eine Atemdicke hinzuzufuegen — und die Reaktion des Drehmoments kippt um die Hinterachse, Ueberschlag, Ende. Aber anhalten darf man nicht. Im Zelt Annas Schrei — entweder Schmerz oder Begeisterung. Kurt, Dieter. Auf der Strecke lasse ich das Gaspedal fuer einen Bruchteil eines Augenblicks los — die Nase beruehrt wieder die Strasse — und druecke das Pedal wieder durch. Ploetzlich Haende am Lenkrad — nicht meine: gross, sonnengebraeuent, in Lederhandschuhen. Rudi. Ich siege, indem ich die Maschine schaffe, die er faehrt. Zielflagge. Champagnertropfen rinnen ueber die Haut wie eine warme Dusche. Erster Platz, Weltrekord. Die Menge ruft meinen Namen. Eine Welle steigt aus der Tiefe, durchfaehrt den ganzen Koerper auf einmal, wie Fallen und Fliegen in einer Bewegung. Ueberflutet, erstickt, loest Grenzen auf. Ich fange an aufzuwachen.

Erwachen.

Kaelte. Decke in einem Knaeuel an den Fuessen, Nachthemd auf die Taille gerutscht. Draussen — vormorgenliche Dunkelheit vor blassem Grau. Atem schwer, Herz schlaegt wie nach einem echten Rennen, Laken klebt an der Haut. — Mein Gott, — dachte ich. Stand auf, schwankend. Nachthemd fiel zu den Fuessen. Hob es vom Boden auf, drueckte den warmen Stoffklumpen in der Hand und ging zur Tuer. Barfuss ueber kalte Dielen. Flur. Kaffeegeruch. Geruch von gerostetem Brot. Mutter ist schon aufgestanden, bereitet Fruehstueck zu. Stiess die Kuechentuer auf und trat ein.

Kueche.

Waerme. Auf dem Herd blaue Flamme unter der Pfanne. Mutter steht mit dem Ruecken, wendet geroestetes Brot. Vater am Tisch, Zeitung. Und Erich. Ebenmaessiger dunkler Anzug, weisses Hemd, Haare zurueckgekaemmt. Spricht leise, gemessen. Ich erstarrte in der Tuer, mit dem Nachthemd in der Hand. Mutter drehte sich um — Augen weiteten sich. — Greta! Erich hob den Blick, eine Sekunde, noch eine. Er wandte den Blick nicht ab und war nicht verlegen, schaute einfach ruhig, aufmerksam — und kehrte zur Tasse zurueck. Ich verstand immer noch nicht, warum ich hier war und nicht auf dem Podium, warum niemand gratulierte — denn ich war Erste, ich hatte gewonnen, ich hatte einen Rekord aufgestellt. Ich legte das Hemd auf den freien Schemel an der Wand und setzte mich neben Erich. Mutter stellte schweigend eine Tasse vor mich — warm, weiss, mit einem feinen Riss am Henkel, genau die aus der Kindheit. Auf dem Tisch — meine Zigarettenschachtel. Niemand sonst im Haus rauchte. Und ich rauchte nicht, solange Kurt lebte. Ich nahm eine, strich ein Streichholz an. Tiefer Zug. Rauch — in duennem Strahl. Tabakgeruch wurde scharf staerker. Erich sagte nichts, aber ich erinnerte mich — er vertrug keinen Rauch. Stand auf, oeffnete das Fenster. Kalte Oktoberluft drang herein. Liess den Rauch hinaus, drueckte die Zigarette aus — ich rauchte nie bis zum Filter — und kehrte zum Schemel zurueck. Nahm das Hemd, zog es mit einer Bewegung ueber den Kopf, Stoff glitt ueber die Haut, kuehl, weich. Setzte mich wieder. — Entschuldigung, — sagte ich und sah Erich an. — Bin nicht gleich aufgewacht. War noch drin im Traum.

Gespraech.

Erich nickte, als waere nichts Ungewoehnliches geschehen, als wuerde er jeden Morgen mit einer Frau fruehstuecken, die hereinkommt, Rauch aus dem Fenster laesst und sich erst dann anzieht. — Ick hab deinen Eltern von Fuerstenwalde erzaehlt, — sagte er gleichmaessig. — Von meinen. Vater — bei der Eisenbahn. Vaters Bruder — hier in Stuttgart, am Rangierbahnhof. Vater hob die Augen von der Zeitung. — Mueller? Herr Mueller vom Rangierbahnhof? — Ja. Vater wechselte einen Blick mit Mutter, Gesicht wurde lang. — Also bist du dieser Neffe? Greta, erinnerst du dich, ich hab's erzaehlt? Ich erinnerte mich — vage: Herr Muellers Neffe interessiert sich fuer dich. Damals winkte ich ab: Arbeit, Rennen, Abendschule. — Erinner mich, — sagte ich leise. — Du hast noch gsagt, ihm wuerd's net gfalla, dass ich nach Benzin riech und ueber Eisazueg nachdenk. Mutter stellte den Teller mit gerostetem Brot hin, sah mich lang und schmerzlich an — ihr war peinlich: wegen meines Aussehens, wegen der Zigarette, wegen dem, wie es neben so einem anstaendigen jungen Mann aussah. Aber Erich schien nichts zu bemerken. Ploetzlich keuchte Mutter auf. — Greta! Deine Haare! Ich beruehrte die Schlaefe — eine Straehne, voellig grau, silbern. — Wann isch des... — begann Mutter und brach ab. — Schon lang her, Ende September, — sagte ich. — Nach dem Ausbrecher. Ich hab versucht, des Verhalte vom Rekordwage bei hoher Gschwindigkeit zu verstehe, und hab beinah Dummheite gmacht. Ich sagte nicht — waere fast gestorben. Vater wurde blass. Er verstand: wenn das Grau augenblicklich kam, dann war es wirklich erschreckend gewesen. Er stand auf, kam naeher, beruehrte vorsichtig den silbernen Faden. — Kurt... — fluesterte er. — Nach Kurt wurde deiner Mutter in einer Woche die Haelfte vom Kopf grau. Mutter wandte sich ab, Schultern zuckten. Ich erinnerte mich — Kurt fiel Anfang vierunddreissig vom Himmel. Die Eltern alterten in einem Monat um zehn Jahre — graue Gesichter, graue Schlafen, Augen, in denen der Schmerz fuer immer wohnte. Meinen Tod werden sie nicht ueberstehen, — dachte ich. Erich schwieg, schaute aufmerksam — ohne Mitleid, ohne Furcht, einfach mit Verstaendnis. — Greta, — sagte er leise, — erzaehl. Net bloss von dem Fall. Erzaehl von dir. Ich sah ihn an. Dann Vater. Mutter. — Des dauert lang, — sagte ich. Vater setzte sich, faltete die Zeitung zusammen. — Mir habet Zeit. Sag, was du fuer wichtig haeltsch. Mir hoeret zu. Du redsch selta ueber dich. Ich trank einen Schluck Kaffee, schloss die Augen. Und begann mich zu erinnern.

Schule. Stuttgart. Von neunzehnhundertvierundzwanzig bis achtundzwanzig.

Ich war zwoelf, als ich mich zum ersten Mal im Unterricht aeusserte. Der Mathematiklehrer rief Franz zur Tafel — einen Jungen aus der dritten Reihe, der die Hausaufgaben nicht gelernt hatte. Er zoegerte, wurde rot, schaute auf den Boden. Der Lehrer schrie. Die Klasse lachte. Franz weinte. Zwanzig Minuten gingen dafuer drauf. Ich hob die Hand. — Herr Lehrer, warum verschwendet mir Zeit dafuer? Stille. Der Lehrer drehte sich um. — Was hasch du gsagt, Greta? — Warum Zeit fuer oeffentliche Schande verschwendet? Gebet ihm a Fuenf und losset die lerna, die lerna wollet. Mir habet zwanzig Minute verlora, in dena mir Wissa haettet bekomma kenna. Des isch net rational. Ich wurde zum Direktor gerufen, die Eltern — in die Schule, es gab einen Skandal. Aber Vater unterstuetzte mich. — Sie hot Recht. Die Schul isch zum Lerna da, net fuer oeffentliche Erniedrigunge. Mit fuenfzehn sprach ich wieder — auf der Lehrerkonferenz. — Fraeulein Schmidt, Sie ignorieret die Hausaufgabe. — Ja. — Warum? — Weil sie sinnlos send. Des Material isch im Unterricht verstanda worda. Warum drei Stunda fuers Abschreiba verschwendet, wenn ma lesa und denka koennt? — Disziplin isch Teil der Erziehung. — Disziplin um der Disziplin willa isch Dummheit. Sie muss ama Zweck diena. Gebet mir a Fuenf und mir machet weiter mit Lerna. Mit sechzehn schrieb ich dem Direktor einen Brief ueber das Notensystem: Noten sind keine Belohnung und keine Bestrafung, sie sind Wissensmessung. Sie sollten nur dem Lehrer und dem Schueler bekannt sein. Oeffentlichkeit erniedrigt die einen und erhebt die anderen, und stoert noch die Objektivitaet: der Lehrer schaut unwillkuerlich auf die Noten des Schuelers in anderen Faechern, und das verzerrt das Bild. Der Brief wurde abgelehnt. Aber ich wusste — ich spreche richtig. Und zehn Jahre spaeter, als ich zu Daimler-Benz kam und dasselbe sah — Chef schreit, Untergebener schweigt, oeffentliche Abrechnung statt sachlicher Besprechung — verstand ich: die Schule war eine Probe gewesen. Ich oeffnete die Augen. Erich schaute aufmerksam, lange. — Greta, — sagte er leise, — warst du immer so? Hast immer direkt jesprochen? — Ja. Immer. Isch des a Problem? — Nein, — er schuettelte den Kopf. — Des isch wunderbar. Die meischte lernet zu schweiga. Aber du hasch glernet, die Wahrheit zu saga.

KAPITEL 2. DIE LAGER

Ich war elf, als meine Eltern Kurt und mich zum ersten Mal ins Wandervogel-Lager bei L;beck brachten. Der Juni war hei;, die Luft roch nach Kiefernharz und nach der Ostsee.;;

L;beck, die alte Hansestadt, liegt ganz nahe an der K;ste — dort, wo sanfte Sandstr;nde der Ostsee die Bucht ber;hren und die H;user sich entlang der engen Gassen der Altstadt erstrecken, aus rotem Backstein gebaut. Die Stadt war einst die Hauptstadt des Hansebundes, und ihre Kaufleute waren die reichsten im deutschen Norden. L;beck ist ber;hmt f;r seine Steinkirchen und das Holstentor, und auch f;r den besonderen Duft von Marzipan, den man am Marktplatz selbst im Wind sp;ren kann.;

Aber wir waren nicht in der Stadt selbst — unser Lager stand auf einer weiten K;stenwiese unter rauschenden Kiefern. Bis zum Zentrum L;becks mit dem Fahrrad — eine halbe Stunde die Allee entlang, aber wir brauchten nur den Wald, die Sonne und das salzige Wasser der Ostsee.;

— Greda, schau! — Kurt packte mich am Arm und zeigte auf die Lichtung zwischen den Kiefern.;

Dutzende Zelte, Lagerfeuer, junge Leute in freier Kleidung — oder ganz ohne. Ich erstarrte. Am Ufer beim Wasser sonnten sich nackte K;rper. Kinder liefen unbekleidet herum, lachend. Erwachsene sa;en am Feuer, diskutierten ;ber etwas, ohne auf ihre Nacktheit zu achten.;;

— FKK, — erkl;rte Mama ruhig. — Freik;rperkultur. Hier gibt's keine Scham vor der Natur, Kind. Der K;rper ist nat;rlich.;

Vater baute unser Zelt auf, und Kurt war schon zu einer Gruppe Jugendlicher gerannt, die Ball spielten. Ich blieb stehen, wusste nicht, was ich tun sollte.;

— Bist du neu? — Ein M;dchen etwa in meinem Alter kam auf mich zu. Helle Haare bis zu den Schultern, blaue Augen, sie trug nur einen kurzen Rock. Die schon gut sichtbare Brust war nicht bedeckt.;

— Ick bin Anna.;

— Greda, — stellte ich mich vor.;

— Willste baden? Det Wasser is warm!;

Sie streifte ihren Rock ab, packte meine Hand und zog mich zum Wasser. Ich zog z;gernd mein Kleid aus, blieb in der Unterw;sche.;

— Zieh dir alles aus! — lachte Anna. — So macht man det hier nich. Wa sind frei!;

Ich zog alles aus. Das Gef;hl war seltsam — die Luft ber;hrte die Haut, die Sonne brannte auf den Schultern. Aber niemand schaute verurteilend. Kinder planschten, Erwachsene unterhielten sich. Einfach K;rper. Einfach Menschen.;

Am Abend versammelte sich die ganze Gemeinschaft am Feuer. Jemand spielte Gitarre, man sang alte deutsche Lieder. Ich sa; zwischen meinen Eltern, in eine Decke geh;llt.;

— Heute sprechen wir ;ber den K;rper, — begann der ;ltere Lagerleiter, ein Mann um die vierzig mit graumeliertem Bart. — Dar;ber, was nat;rlich ist und was man Kindern in Schulen und Kirchen verschweigt.;

Er sprach einfach, ohne Verlegenheit. Dar;ber, wie M;nner und Frauen aufgebaut sind. Dass sich der K;rper mit dem Alter ver;ndert. Dass Selbstber;hrung normal ist, eine Weise, den eigenen K;rper kennenzulernen.;

— Selbstbefriedigung, — sagte er ruhig, — ist ein nat;rliches Bed;rfnis. Wie Hunger oder Durst. Keine S;nde. Keine Schande. Einfach Physiologie.;

Ich h;rte zu und sp;rte, wie meine Wangen brannten. Aber er sprach wie ein Arzt, wie ein Wissenschaftler. Ohne Schmutz, ohne Zweideutigkeit.;

Nach dem Gespr;ch sa; ich mit meinen Eltern beim Zelt.;

— Alle mache des, — sagte ich pl;tzlich.;

Vater sah mich erstaunt an:

— Was genau, Kind?

— Des, wovon er g'schw;tzt hat. Selbstbefriedigung. Alle, aber die Heuchler verberge's.;

Mama l;chelte:

— Du hasch recht, Greda. Heuchelei — des isch, wenn alle's mache, aber so tun, als machte se's net.;

— Du au? — fragte Vater vorsichtig.;

— Klar, — ich zuckte mit den Schultern. — So mache's fast alle. Aber dr;ber rede tut ma net.;

Kurt schnaubte aus seinem Zelt:

— Die Schweschder hat recht, Papa. In der Schul' rede alle dr;ber, aber leise. Als w;r's a Verbreche.;

— Hier gibt's keine Verbrechen, — sagte Vater nachdenklich. — Hier gibt's Ehrlichkeit.;

Am n;chsten Tag gab mir der Leiter ein Buch. Ein dicker Band mit Zeichnungen — Anatomie des menschlichen K;rpers. Ich las gierig, sog das Wissen auf. Wie Muskeln funktionieren. Wie das Nervensystem aufgebaut ist. Woher Lust kommt — Wellen von Impulsen von Nervenenden zum Gehirn, Aussch;ttung chemischer Stoffe.;

Der K;rper ist eine Maschine, — dachte ich, w;hrend ich die Seiten umbl;tterte. Komplex, aber verst;ndlich. Es gibt Eingabe — Reizung. Es gibt Prozess — Nervenimpulse. Es gibt Ausgabe — Empfindung. Wie bei einer Dampfmaschine.;

Dieser Gedanke beruhigte. Machte das Unverst;ndliche verst;ndlich. Verwandelte Geheimnis in Wissenschaft.;

Jenen Sommer verbrachte ich mit Anna. Wir liefen durch den Wald, badeten, sprachen ;ber die Zukunft. Sie wollte Schauspielerin werden. Ich — wusste noch nicht. Aber Maschinen gefielen mir besser als Menschen. Sie logen nicht, taten nicht so, verurteilten nicht.;

Teil II. Das zweite Lager, 1928-1929

Ich kehrte im Sommer 1928 ins Lager zur;ck. Ich war sechzehn. Der K;rper hatte sich ver;ndert — Br;ste rundeten sich, H;ften wurden breiter. Kurt war neunzehn, er brachte Freunde mit: Dieter und Wolfgang.;

Anna hatte sich auch ver;ndert. Gewachsen, h;bscher geworden. Helle Haare nun bis zur Taille, Figur — wie eine erwachsene Frau.;

Wir stellten die Zelte nebeneinander auf. Vier Jugendliche, zwei Zelte f;r alle — so war es im Lager ;blich. Gemeinschaft, Vertrauen, Freiheit.;

In der ersten Nacht konnte ich nicht schlafen. Zu hei;, zu stickig. Lag da, h;rte den Atem der anderen.;

Dann h;rte ich ein Rascheln. Vorsichtig, kaum h;rbar.;

Ich ;ffnete die Augen einen Spalt. Mondlicht drang durch den Zeltstoff. Kurt stand auf, durchquerte das Zelt, legte sich neben Anna.;

Gefl;ster. Leises Lachen. Dann — Stille.;

Und dann — Ger;usche. Beschleunigter Atem. Ein Rhythmus, langsam, anschwellend. Ged;mpftes St;hnen.;

Ich lag unbeweglich, das Herz h;mmerte. Der K;rper antwortete mit Echo — W;rme im Unterleib, beschleunigter Atem. Wie Gas unter einem Kolben — Kompression, Erhitzung, Druck.;

Physiologie, — dachte ich und versuchte, mich zu beruhigen. Nur eine Reaktion auf ;u;eren Stimulus. Nervensystem, Hormone, Reflexe.;

Aber das Wissen half nicht. Der K;rper lebte sein eigenes Leben, h;rte nicht auf die Vernunft.;

Nach einigen N;chten wiederholte es sich. Aber diesmal kam Dieter zu Anna. Kurt schlief — oder tat so. Dieselben Ger;usche, derselbe Rhythmus.;

Ich verstand: Anna war frei. Sie musste nicht zwischen ihnen w;hlen. Sie konnte mit beiden sein. Und niemand verurteilte.;

Ist das richtig? — fragte ich mich. Oder falsch?;

Die Moral sagte das eine. Das Lager — das andere. Die Physiologie — ein drittes.;

In der f;nften Nacht kam Wolfgang zu mir. Legte sich neben mich, ohne zu ber;hren.;

— Greda, — fl;sterte er.;

— Ja?

— Darf ick... — er verstummte, suchte nach Worten. — Darf ick dich ber;hrn?;

Ich erstarrte. Das Herz schlug so laut, dass es mir schien, alle h;rten es.;

Seine Hand glitt unter die Decke, ber;hrte meinen Oberschenkel. Warm, vorsichtig.;

— H;r auf, — sagte ich leise.;

Die Hand erstarrte.;

— I ben net so weit, — f;gte ich hinzu.;

Er legte sich neben mich — einfach neben mich. Zog die Hand weg. Sein Atem war gleichm;;ig, ruhig.;

— Danke, — fl;sterte er nach einer Minute.;

— Wof;r?

— F;r die Wahrheit. Daf;r, dasse ehrlich jesagt hast.;

Ich erlaubte ihm, die Hand nicht wegzunehmen. Einfach neben mir zu liegen, ohne n;her zu kommen. Die W;rme seines K;rpers beruhigte.;

Am Morgen l;chelte er mich an und reichte mir eine Tasse Tee:

— Danke f;r die Wahrheit, Greda. Du bist ehrlich.;

Pragmatismus, — dachte ich. Seit Kindheit. Weder sich selbst noch andere bel;gen. Die Grenzen kennen. Direkt sprechen.;

Jener Sommer lehrte mich: Der K;rper ist ein Werkzeug. Man kann ihn steuern. Man kann "ja" sagen, man kann "nein" sagen. Und beide Antworten sind richtig, wenn sie ehrlich sind.;

Teil III. Das dritte Lager, 1933

Ich war einundzwanzig. Kurt vierundzwanzig. Anna einundzwanzig. Dieter f;nfundzwanzig. Wolfgang dreiundzwanzig.;

Wir kamen im Juli 1933. Das letzte Lager. Wir wussten noch nicht, dass es das letzte war.;

Anna kam mit Kurt und Dieter. Offen, ohne T;uschung. Sie lebten zu dritt in Berlin, mieteten eine gemeinsame Wohnung. Schliefen in einem Bett. Liebten einander — alle drei zugleich.;

— Is det normal? — fragte ich Anna am ersten Abend, als wir am See sa;en.;

Sie zuckte mit den Schultern:

— F;r mich schon. Ick liebe beide. Se lieben mir. Und se respektiern sich. Warum w;hln?;

— Aber die Gesellschaft...

— Die Jesellschaft, — sie grinste, — wird uns bald ;berhaupt det Atmen verbieten. Haste jesehn, wat in Berlin passiert? M;rsche, Fackeln, Hakenkreuze. Die Nazis sind an der Macht, Greda. Se verbrennen schon B;cher, schlie;en Lager, verhaften Andersdenkende.;

Ich schwieg. Wusste es. Hatte es geh;rt. Aber wollte es nicht glauben.;

— Dit Lager hier is det letzte, — sagte Anna leise. — N;chstet Jahr machense zu. Wandervogel werdense Unzucht nennen. FKK — Degeneration. Se treiben uns alle in Rahmen.;

— Und du?

— Ick bin schwanger, — sie legte die Hand auf ihren Bauch. — Drei Monate. Von wem — wei; ick nich. Von Kurt oder von Dieter. Und det is egal. Det Kind wird unser sein, von uns allen drein.;

Ich schaute sie an. Auf das helle Haar, auf das ruhige Gesicht, auf die Hand auf dem Bauch.;

Freiheit, — dachte ich. Ihre Freiheit — wie ein offener Kreislauf. Ohne Beschr;nkungen, ohne Verbote. Meine — eine andere. In Formeln, in Maschinen, in Berechnungen.;

Aber welche ist besser?;

In jener Nacht schlief ich nicht. Lag im Zelt, h;rte die Ger;usche des Lagers. Gitarre am Feuer. Leise Gespr;che. Das Rascheln der Liebe.;

Die Welt wird dunkel, — dachte ich. Nazis in Berlin. M;rsche statt Lieder. Angst statt Freiheit. Dieses Lager — die letzte Insel.;

Aber i ben koa Frau, koa Mudder. I ben Ingenieur. I bau Maschine, Kompressore, Streckle. F;r Wisse, wo ewig send.;

K;rper sterben. Liebe wird vergessen. Aber Formeln bleiben.;

Am Morgen verabschiedete ich mich von Anna. Umarmte sie fest.;

— Pass uff dich uff, — sagte ich. — Und uffet Kind.;

— Und du pass uff deine Maschine uff, — sie l;chelte. — Se send deine Kinder, Greda.;

Wir verlie;en das Lager im August. Ich kehrte nie mehr dorthin zur;ck.;

Im September 1933 wurde Wandervogel offiziell verboten. Die Lager wurden geschlossen. B;cher verbrannt. Menschen begann man zu verhaften.;

Im Januar 1934 starb Kurt bei einem Flugzeugabsturz. Das Flugzeug st;rzte bei Berlin ab.;

Der offiziellen Antwort glaubten wir nicht. Ich vermute, dass man ihn umbrachte.;

Anna gebar im M;rz einen Jungen. Nannte ihn Karl. Ich wurde Patin.;

Dieter verschwand 1935. Von der Gestapo verhaftet. Man sah ihn nie wieder.;

Wolfgang heiratete 1936. Fuhr nach Amerika.;

Anna blieb allein mit dem Sohn. Wir schrieben einander bis 1939. Dann kamen keine Briefe mehr.;

Warum Tr;ume von Anna?

Kein Neid. Analyse.;

Ihre Freiheit — wie ein offener Kreislauf, ohne Verbote. Meine — in Formeln, in Maschinen.;

Sie w;hlte die Liebe. Ich — das Wissen.;

Sie gebar ein Kind. Ich — werde einen Motor bauen.;

Beide Wege sind richtig. Oder beide falsch.;

Die Welt wird dunkel: Nazis marschieren, B;cher brennen, Menschen verschwinden.;

Aber i ben koa Frau, koa Mudder. I ben Ingenieur.;

I bau Maschine, Kompressore, Streckle.;


Ðåöåíçèè