Anstifter und Laesterer

Laesterer und Anstifter


Eine einaktige Mysterie mit tragischem Ausgang.


Personen
Anstifter. Ein rosiger, leicht fuelliger Blondling im bluehenden Alter.
Laesterer. Ein hagerer Dunkelhaariger in fortgeschrittenen Jahren, mit Spuren des Lasters auf seinem unansehnlichen Gesicht.
Erste Volksgrazie. Eine bildschuetze Schoenheit.
Zweite Volksgrazie. Eine bildschuetze Schoenheit.
Dritte Volksgrazie. Ein bildschuetzter Schoenling.
Vierte Volksgrazie. Eine bildschuetze Schoenheit.
Die Hand der Hinterkulisse. Behaart.


Szene.
Ein von Scheinwerfern hell erleuchteter Waldrand. Drei weissstaemmige Birken stehen im Hintergrund der Buehne. Der Hintergrund zeigt einen Mischwald aus Birken und Kiefern. Im Vordergrund liegt im Gras ein dicker Kiefernstamm. Rechts auf der Leinwand ist ein Landweg gemalt, der sich in der unendlichen Ferne verliert. Links zieht ein Trupp Soldaten den Landweg entlang, der sich in der unendlichen Ferne verliert. Der letzte Soldat, noch fast ein Kind, blickt zum Publikum zurueck. Sein Gesicht drueckt Fassungslosigkeit und Ratlosigkeit aus. Im naechsten Moment wird er losrennen, um seine Kameraden einzuholen.
Bei den Birken fuehren die Grazien in Nationaltrachten einen langsamen Reigen auf. Sie singen ein trauriges Lied ohne Worte. In das wortlose Summen der Grazien mischt sich der zarte Schlag einer Nachtigall.
Von rechts betritt der Anstifter die Buehne. Er traegt ein rotes Hemd mit schraegem Kragen, weit geschnittene Hosen, die in Chromlederstiefel gesteckt sind. Auf seinem Kopf prangt eine Schirmmuetze, ueber der Schulter haengt ein Jagdgewehr, in dessen Lauf eine Kamille steckt.
Der Anstifter naehert sich langsam dem Baumstamm. Er blickt sich mit tiefer Brust atmend um. Sein Gesicht zeigt ungetruebte Freude. Er verneigt sich tief vor den summenden Grazien. Nachdem er sich aufgerichtet hat, reisst er sich schwungvoll die Muetze vom Kopf und faehrt mit der Hand in seine strohgelben, dichten Locken. Beim Ausatmen sagt der Anstifter:
– Ach, wie ist das schoen!
Von links schleicht der Laesterer auf die Buehne. Er ist aeusserst flegelhaft gekleidet: ein abgetragener Smoking und eine Brille mit Goldfassung. Der Laesterer beginnt sofort, die Maedchen zu bedraengen. Die Grazien fliehen kreischend von der Buehne.

Anstifter (laut): Wieder hast du alles verdorben.
Laesterer (sich umdrehend): Was?
Anstifter (nachaeffend): Was-was. Warum, frage ich, beleidigst du die Maedchen?
Laesterer (zum Baumstamm tretend): Was geht dich das an? Bist du etwa mit ihnen verwandt?
Anstifter (das Gewehr von einer Schulter auf die andere werfend): Wegen Leuten wie dir...
Laesterer (erschrocken): Nicht aufregen, Strel, ich mach's nicht wieder.
Anstifter (zufrieden): Na also.
Sie setzen sich auf den Baumstamm. Das Schlagen der Nachtigall verstummt. Der Anstifter kramt in seinen weiten Hosen und holt einen Tabakbeutel mit einem aufgestickten fuenfzackigen Stern hervor.
Anstifter (den Beutel hinreichend): Willst du?
Laesterer (abwehrend): Nein danke, ich habe meine eigenen.
Er zieht eine dicke Zigarre und ein teures Feuerzeug aus der Innentasche des Smokings.
Anstifter (missbilligend kopfschuettelnd): Sieh mal an, wahrscheinlich frisst du auch Parmesan.

Der Laesterer tut so, als haette er mit Parmesan absolut nichts zu tun, beisst die Spitze der Zigarre ab und spuckt sie demonstrativ ins Gras. Der Anstifter dreht waehrenddessen geschickt eine Selbstgedrehte, die an Groesse der Zigarre kaum nachsteht. Sie zuenden sich gleichzeitig an (der Anstifter mit einem Streichholz, der Laesterer mit der Flamme des teuren Feuerzeugs).
Die Grazien kehren, scheu zum Laesterer blickend, zu den Birken zurueck. Sie fassen sich an den Haenden und beginnen einen sanften Reigen, wobei sie ein trauriges Lied ohne Worte singen. Das Schlagen der Nachtigall fuegt sich erstaunlich harmonisch in den Gesang der Grazien ein.
Die Scheinwerfer dimmen das Licht, es wird zartrosa. Die Leinwand mit dem Mischwald faehrt zur Seite. An ihre Stelle tritt ein gemalter See. Die Abendsonne beruehrt fast das Wasser.
Ein glueckseliges Laecheln breitet sich auf dem Gesicht des Anstifters aus. Mit geschlossenen Augen und zur Seite geneigtem Kopf schwenkt er sanft seine Selbstgedrehte, als wuerde er den Chor der Grazien dirigieren.
Der Laesterer blickt ironisch auf den Anstifter. Immer wieder zieht er an der Zigarre und laesst Rauchschwaden durch die Nase ab.

Laesterer: Khehe-khehe. Wir muessen uns irgendwie weiterbewegen.
(Der Anstifter zuckt mit den Schultern, ohne mit dem Dirigieren aufzuhoeren.)
Laesterer: Khehe-khehe. Ich meine, wir muessen das Publikum unterhalten.
Anstifter (inhaliert und blaest den Rauch aus): Eigentlich ist mir das (ein bassiges Piep-Piep aus den Lautsprechern) egal. Du bist der Laesterer, du fuehrst hier Regie.

Aus den Lautsprechern ertoent heftiger Applaus und zustimmende "Bravo!"-Rufe. Der Laesterer steht vom Baumstamm auf und verbeugt sich vor dem Saal. Aus den Lautsprechern hoert man Pfiffe und missfaellige "Du Dussel!"-Rufe. Der Laesterer setzt sich verlegen wieder auf den Stamm. Der Anstifter steht auf und verbeugt sich. Der heftige Applaus schlaegt in stuermische Ovationen ueber.

Laesterer (laut in den Saal): Nein, so geht das nicht. (leise zum Anstifter gewandt) Die Leute haben Geld bezahlt, man muss ihnen interessante und amuesante Geschichten erzaehlen und zeigen.
Anstifter (gaehnt und schliesst die Augen): Also ich... ich wuerde hier einfach sitzen und zuhoeren, sitzen und zuhoeren.

Der Anstifter wiederholt wie im Vergessen "sitzen und zuhoeren, sitzen und zuhoeren" immer leiser und leiser. Der Laesterer versetzt ihm einen kraeftigen Schlag auf den Ruecken.

Anstifter (oeffnet die Augen): Wo bin ich?
Laesterer (leise durch die Zaehne): Du bist auf Sendung, du Vieh. (laut) Starker Tobak hast du da, ich haette nicht ablehnen sollen.

In einem kurzen Kampf bemaechtigt sich der Laesterer der Selbstgedrehten des Anstifters und loescht sie am Baumstamm aus. Ebenso loescht er seine Zigarre.

Laesterer (laut in den Saal): Also, worueber werden wir sprechen, hm?
(Der Anstifter gaehnt und streckt sich.)
Laesterer: Vielleicht ueber die Ukraine?

Der Anstifter greift nach dem Gewehr, das am Baumstamm lehnt, und springt munter auf. Er mustert argwoehnisch die Umgebung. Die Grazien verstummen und verharren regungslos, wobei sie mit der Landschaft verschmelzen. Da er keine Fremden entdeckt, setzt sich der Anstifter wieder auf den Stamm.

Anstifter: Nur nicht ueber die Ukraine!
Laesterer: Dann ueber Sanktionen?
Anstifter (eigensinnig): Sanktionen sind sch... (bassiges Piep-Piep aus den Lautsprechern). Ich will nicht ueber Sanktionen, ich will ueber den Ruhm sprechen.
Laesterer: Ueber welchen Ruhm? (Wortspiel: "Slava" als Name oder Begriff)

Anstifter (belehrend): Nicht ueber welchen, sondern ueber welche.

Der Anstifter holt einen verzierten Tabakbeutel aus seinen weiten Hosen. In einem kurzen Handgemenge bemaechtigt sich der Laesterer des Beutels. Waehrend des Kampfes treten die Grazien an den Baumstamm heran und stellen sich in einer Reihe hinter den Ruecken der raufenden Helden auf.

Laesterer (ausser Atem): Ach ja, ueber unseren Ruhm. Also, hoer zu.


Aus den Lautsprechern ertoent ploetzlich statt des Nachtigallenschlags schmetternde Musik. Die Grazien singen nach kurzem Summen im Einklang.


Grazien (im Chor): Feldchen, mein Feldchen, Feldchen, weites Feld...

Laesterer (empoert, den Kopf zur Decke erhoben): Was fuer ein Chaos! Dieses Lied ist aus dem Finale. Schaltet die Musik aus!

Die Musik verstummt. Aus dem Lautsprecher hoert man Roecheln, Stoehnen und unverstaendliche, aber heftige Flueche. Der Anstifter lacht herzlich.

Grazien (unharmonisch, durcheinander): Es ritten ueber das Feld Helden, Helden der Roten Armee...
Laesterer (zu den Volksgrazien gewandt): Haltet die Klappe!
Die Grazien verstummen.
Laesterer (laut in den Saal): Auf niemanden ist Verlass. (er breitet die Arme aus) So ein Land ist das.
Anstifter (drohend): Na, na!
Laesterer (winkt dem Anstifter gegenueber verachtend ab): Du beruhigst dich jetzt wenigstens.
Der Anstifter wird rot und runzelt die Stirn.
Laesterer (kratzt sich an der Stirn): Miststuecke, sie haben mich aus dem Konzept gebracht.

Auf der Buehne und im Saal herrscht eine gespannte Stille. Alle warten darauf, dass der Laesterer seine zerstreuten Gedanken sammelt.

Laesterer (laut, den Kopf erhoben): So hoert, meine Brueder, von unserem glorreichen Ruhm, von den Taten unserer Grossvaeter, davon, wie wir alle bezwungen und allen eins uebergebraten haben.

Der Saal aus den Lautsprechern summt zustimmend. Hier und da brennt vereinzelter Applaus auf.

Laesterer (mit einer breiten Geste die Stille wiederherstellend): Vor langer, langer Zeit, als das antike Griechenland noch in kurzen Hosen herumlief und Rom rosa Babysnotz verschmierte, gab es im Norden unserer grossen Macht bereits ein maechtiges Land – Hyperborea. Die Hyperboreer – unsere Vorfahren – waren herrlich anzusehen und tugendhaft. Sie waren mit grosser geistiger Kraft begabt und erfuellt von Lebenskraft...

Anstifter: Khehe-khehe. (gaehnt).

Publikum: U-u-u. (Schlurfen von Fuessen, unzufriedenes Murmeln).

Laesterer (leise): Vollpfosten. (laut). Die Hyperboreer haben ihren genetischen Code und ihr besonderes Gewissen an die Wikinger der Rus weitergegeben. (Er steht auf, streckt die Hand aus und richtet den Blick auf die Galerie). Haben wir den Petschenegen eins uebergebraten? Jawohl! Haben wir die Chasaren verdroschen? Und wie! Haben wir die Polowzer verpruegelt? Aber sicher!

Aus den Lautsprechern ertoenen langanhaltende Ovationen. Der Laesterer verbeugt sich. Er setzt sich auf den Baumstamm.

Erste Volksgrazie: Das ist ja alles schoen, Huli – aber was soll's. Wie kann man die Hyperborer...
Laesterer (mechanisch korrigierend): Hyperboreer.
Erste Volksgrazie (unwirsch): Sag ich doch, wie kann man diese Hyperboreer mit dem heutigen Tag verbinden?
Laesterer (gereizt): Ich sage es doch auf gut Deutsch: Sie haben den genetischen Code an die Wikinger weitergegeben.
Anstifter (nachdenklich): Und das Gewissen.
Laesterer (seufzend): Und das auch. Unterbrecht mich nicht, sonst gelange ich nie zum wahren Ruhm.

Anstifter (leise, zum Laesterer geneigt): Gib den Beutel her.
Laesterer (leise): Zieh Leine. (laut). Fuerst Wladimir (steht auf, mit dem Beutel in der Hand geht er auf einen Durchgang in der Dekoration zu) liess sich in Korsun taufen, nachdem er zuvor die Stadt kurz und klein geschlagen hatte.

Hinter den Kulissen streckt sich eine behaarte Hand hervor und nimmt dem Laesterer den Beutel ab.

Laesterer (leise): Prueft mal, was er da zusammengemischt hat.
Die Hand der Hinterkulisse: Belehr nicht die Gelehrten.
Laesterer (laut in den Saal): Seit jenen ruhmreichen Zeiten ist Korsun fuer jeden Patrioten ein heiliger Ort. (leise). Seid ihr da hinten eigentlich voellig durchgedreht, ihr Gelehrten? Warum habt ihr Slawa Nikischin als dritte Grazie besetzt?
Die Hand der Hinterkulisse (schuldbewusst): Versteh doch, Veronika ist krank geworden. Wir haben geschnappt, wer uns gerade in die Haende fiel. (besorgt) Glaubst du, das Publikum hat’s gemerkt?
Laesterer: Das Publikum weiss ich nicht, aber die vierte Grazie hat es ganz sicher bemerkt.
Die Hand der Hinterkulisse: Na ja, sie ist ja auch seine Ex-Frau.

Laesterer: Weiss ich doch. (laut, zum Baumstamm zurueckkehrend). Viele ruhmreiche und grosse Taten hat unser maechtiges Volk vollbracht. (setzt sich neben den finsteren Anstifter). Haben wir den Tataren eins uebergebraten? Jawohl! Haben wir die Livlaender zerschmettert? Und wie! Haben wir die Schweden geschlagen? Aber sicher! Und vor 200 Jahren ist ganz Gayropa gegen uns aufgestanden, doch daraus wurde nichts...
Zweite Volksgrazie (mit grossem Gefuehl): Deine Reden sind glorreich, Huli. Aber sag mir, einer einfachen Frau: Was wollen die eigentlich alle von uns? Warum drangen sie uns immer wieder ihre Regeln auf? Man kann weder ordentlich beten, noch nach dem Gewissen leben, wie es uns die ruhmreichen Vorfahren der Hyperbel vermacht haben.
Laesterer (leise beiseite): Hyperboreer, du Gans.
Dritte Volksgrazie (nachdenklich): Stoert den Mann nicht. Seht ihr nicht, er ist nicht bei Sinnen. Er phantasiert.
Vierte Volksgrazie (schrill, die Haende in die Hueften stemmend, zur dritten Grazie gewandt): Ach, Hyperbora ist fuer dich also Phantasterei? Das heilige Korsun ist fuer dich also „nicht bei Sinnen“? Verdammt noch mal! Wenn’s dir nicht passt – verpiss dich in dein Gayropa, aber hoer auf, unsere Birken zu bescheissen!
Aus dem Saal ertoenen einmuetige Ovationen und zustimmende „Bravo!“-Rufe. Die dritte Grazie senkt den Kopf und verlaesst die Buehne.

Laesterer: Und es str;mten die gay-ropaeischen Horden auf unser heiliges Land...
Erste Volksgrazie: Huli, sag mal, warum sind die Preise so hochgeschossen? Die beissen wie tolle Hunde.
Laesterer (leise beiseite): Du h;ttest wenigstens den Text lernen koennen, du dumme Kuh.
Anstifter (freudig): Aha! Da haben wir dich ja, du Pindos! Also ist die Volksgrazie fuer dich nur ein dummes Vieh! Also sind wir alle fuer dich nur Abschaum! Das fuenfte Rad!
Laesterer (ueberrascht): Die fuenfte Kolonne.
Anstifter: Ist doch scheissegal: Kolonne oder Rad. (er steht auf). Hauptsache – die fuenfte. (er hebt das Gewehr). Die Zahl des Tieres. (er drueckt ab).

Ein Schuss droehnt. Von der Decke fallen Glassplitter und Putzstuecke auf die Buehne. Die Grazien fluechten kreischend hinter die Kulissen.

Laesterer (steht langsam vom Baumstamm auf): Was machst du da, Strel?
Anstifter (leise): Er kommt... Petrowitsch hat nicht gelogen. Ein echter.
Der Anstifter bricht das Gewehr, nimmt die abgeschossene Patrone heraus und holt eine neue aus der Tasche.
Laesterer (sieht sich verwirrt um): Was treibst du da, du Idiot. Das steht nicht im Drehbuch.
Anstifter (schiebt die Patrone in den Lauf): Das ist mir doch (ein lautes Piep-Piep aus den Lautsprechern) egal. Das hast du nun davon, dass du fremde Tabakbeutel wegnimmst. (er laesst das Gewehr einschnappen).

Der Laesterer versucht im Zickzack den Durchgang in den Dekorationen zu erreichen. Aus den Lautsprechern ertoent bravouroese Musik. Der unharmonische Chor der Grazien hinter den Kulissen stimmt an: Feldchen, mein Feldchen, Feldchen, weites Feld...
Der Anstifter zielt. Ein Schuss droehnt. Der Laesterer faellt mit einem Stoehnen. Die Buehne huellt sich in Rauch.


VORHANG